03.04.2007 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 


Sie schaute die Straße hinauf und hinunter. Ich dachte noch: Kind, stell dich doch irgendwo unter! Es regnete ja ziemlich heftig. Aber sie trug solide Gummistiefel und einen langen Regenmantel. Ich saß schon im Auto und wurde angehupt, deshalb konnte ich nicht halten und ihr sagen, sie solle doch nach drinnen gehen. Ich nahm aber an, dass sowieso jeden Moment ihr Vater oder ihre Mutter auftauchen würde.«
»Sie habenÉ niemanden gesehen, der sie angesprochen hat?«, fragte Virginia. Vielleicht war ja doch Nathan erschienen.
»Nein«, sagte der Zeichenlehrer, »das habe ich nicht.«
Es war zum Verzweifeln. Kein Anhaltspunkt, nicht der geringste.
Sie ging in die Küche, um sich einen Tee zu machen, von dem sie hoffte, er werde ihre Nerven ein wenig beruhigen, aber dann fand sie das Teesieb nicht und war unfähig, sich zu erinnern, wohin sie es für gewöhnlich legte. In ihrem Kopf ging alles durcheinander. Draußen herrschte pechschwarze Nacht, und ihr Kind war nicht daheim, und sie hatte keine Ahnung, wo es sich aufhielt. Es war die Situation, die jede Mutter mehr fürchtete als alles andere auf der Welt und von der sie vom Tag der Geburt des Kindes an am inbrünstigsten hoffte, sie werde niemals eintreten.
Als ihr Handy läutete, stürzte sie ins Nebenzimmer, sehnlichst hoffend, der Anrufer sei Frederic, der ihr mitteilte, er habe Kim gefunden und werde nun gleich mit ihr nach Hause zurückkehren.
Aber es war nicht Frederic. Es war Nathan.

E
r klang ein wenig gestresst. »Virginia? Kannst du mir sagen, weshalb du stundenlang nicht zu erreichen bist undÉ«
Sie unterbrach ihn. »Ist Kim bei dir?«
Er stutzte. »Nein. Wieso? Ich habe Grace angerufen undÉ«
»Grace kam zu spät zur Schule. Kim war nicht mehr da. Sie ist bis jetzt nicht aufgetaucht.« O Gott, dachte Virginia. Wieder zerschlug sich eine Hoffnung. Immer noch hatte sie sich an der Möglichkeit festgeklammert, Kim könne bei Nathan sein. Nun musste sie diesen Gedanken begraben.
»Sie hat sich bestimmt wieder irgendwo versteckt. Habt ihr schon in ihrem Baumhaus nachgesehen?«
»Natürlich. Da ist sie nicht!« Virginias Nervenanspannung entlud sich über Nathan. »Wieso warst du nicht da?«, fuhr sie ihn an. »Ich habe mich auf dich verlassen. Es ging um ein siebenjähriges Kind. Wie konntest duÉ«

M
oment mal, ich hatte Probleme mit dem Auto, und die hatte ich mir nicht ausgesucht. Also schieb mir jetzt nicht die Schuld für irgendetwas in die Schuhe!« Er klang aufgebracht. »Ich habe wieder und wieder versucht, dich zu erreichen, aber das war ja nicht möglich. Du hattest dich ja komplett verabschiedet. Schließlich habe ich über die Auskunft Graces Nummer herausgefunden, wobei ich mir zuerst das Hirn darüber zermartern musste, wie dein Verwalterpaar eigentlich mit Nachnamen heißt. Also, ich habe getan, was ich konnte, um die Situation zu retten.«
Virginias Wut fiel in sich zusammen, zurück blieben nur ihr Elend und ihre Angst.
»Entschuldige«, sagte sie, »aber ich bin krank vor Sorge. Frederic und Jack suchen seit anderthalb Stunden die Schule und das umliegende Gelände ab, aber offenbar haben sie bislang nichts gefunden.«
»Ich weiß, das ist schrecklich«, sagte Nathan. Auch er klang nun ruhiger, sprach mit der sanften Stimme, die sie an ihm liebte. »Aber du solltest nicht gleich an das Schlimmste denken. Gestern Abend hatten wir die gleiche Situation. Bestimmt hat sich Kim wieder irgendwo verkrochen. Sie ist traurig und fühlt sich vernachlässigt, und es ist vielleicht ihre Art, deine Aufmerksamkeit zu erzwingen.«
»Aber es sind schon so viele Stunden vergangenÉ«
»Das beweist nur, dass sie diesmal ein besseres Versteck gefunden hat. Nicht, dass ihr etwas zugestoßen ist. Virginia, Liebste, dreh jetzt nicht durch. Du wirst sehen, sie ist ganz bald wieder bei dir.«
Tatsächlich spürte Virginia, dass sie ruhiger wurde. Ihr Herzschlag ging wieder ein wenig langsamer.
»Ich hoffe, du hast Recht. Wo bist du überhaupt?«
»In Hunstanton. In einem Bed & Breakfast.«
»In Hunstanton? Warum so weit draußen?«
»Schatz, wir werden uns in den nächsten Tagen ohnehin nicht viel sehen können. Bei euch kann ich nicht aufkreuzen, und du wirst viel mit deinem Mann zu klären haben. Und du solltest mit deiner Tochter zusammen sein. Sie braucht dich, sie ist jetzt wichtiger als wir.«
Er hatte Recht, natürlich. Virginia war froh, dass er so dachte.
»Und wenn ich schon so lange ohne dich sein muss«, fuhr er fort, »dann bin ich am liebsten am Meer. Hier kann ich am Strand entlangwandern, und hier gefällt es mir.«
»Ja. Ich verstehe das.«
»Wie lief es mit deinem Mann?«, fragte er.
Sie seufzte. »Er ist verletzt. Verzweifelt. Hilflos. Es ist eine schreckliche Situation.«
»Geschichten dieser Art sind immer schrecklich. Wir werden das durchstehen.«
»Wenn nur KimÉ«
»Psst«, unterbrach er sie. »Kim ist bald wieder bei dir. Etwas anderes darfst du gar nicht denken.«
Ihr fiel noch etwas ein. »Was ist denn nun mit meinem Auto?«
»Offensichtlich die Batterie. Keine Ahnung, warum. Mir hat schließlich jemand mit seinem Starterkabel geholfen. Es fährt jetzt wieder.«
»Ausgerechnet heute! Ausgerechnet heute musste so etwas passieren!«
»Vielleicht hätte ich sie auch nicht angetroffen, selbst wenn ich pünktlich da gewesen wäre. Wenn sie vorhatte zu verschwinden, dannÉ«
»Aber sie stand zuerst noch am Tor und wartete. Das haben mir ihre Freundin und einer ihrer Lehrer bestätigt.«
Er seufzte. »Gut. Dann hat sie gewartet. Niemand erschien, und sie begann sich schon wieder von Mummie vernachlässigt zu fühlen. Und darauf reagiert sie derzeit nun einmal mit Weglaufen. Das wissen wir doch jetzt.«
»NathanÉ«
»Ja?«
»Kannst du mir deine Telefonnummer geben? Ich möchte das Gefühl haben, dich erreichen zu können.«
Er diktierte ihr die Adresse und die Telefonnummer des Hauses, in dem er untergekommen war.

N
achdem sie das Gespräch beendet hatten, fühlte sich Virginia schrecklich einsam und müde. Allein gelassen mit ihrer Angst. Frederic war nicht da. Nathan war so weit weg.
Ihr Kind war dort draußen in der Dunkelheit.
Irgendwann waren Frederic und Jack zurückgekommen. Müde und vom Regen durchnässt. Und ohne Kim.
»Nirgends«, sagte Frederic, »wir haben alles abgesucht. Sie ist nirgends.«
»Der Hausmeister ist mit uns durch alle Räume gegangen«, berichtete Jack, »sogar bis hinunter in den Keller. Es gibt keinen Flecken in dieser Schule, an dem wir nicht nachgesehen hätten.«
»Ich rufe jetzt die Polizei an«, sagte Frederic und ging zum Telefon.
Wie war diese Nacht vergangen? Für den Rest ihres Lebens würden blinde Flecken durch Virginias Gedächtnis ziehen, wenn sie an jene Stunden bis zum ersten Morgengrauen dachte. Weder sie noch Frederic waren ins Bett gegangen. Jack hatte noch eine Weile bei ihnen gesessen, grau vor Erschöpfung im Gesicht, und nachdem er zweimal in seinem Sessel eingenickt war, hatten sie ihn nach Hause geschickt.
»Grace braucht Sie jetzt«, hatte Frederic gesagt, und Jack war gegangen, nicht ohne zu bitten, man möge sofort anrufen, wenn sich etwas Neues ergebe.

D
ie Polizei hatte gesagt, am nächsten Morgen werde jemand vorbeikommen. Sie hatten sich eine genaue Beschreibung von Kim diktieren lassen. Alter, Größe, Haar- und Augenfarbe, Kleidung.
Irgendwann gegen ein Uhr morgens war Frederic noch einmal mit der Taschenlampe losgezogen, um den Park abzusuchen. Virginia hatte mitkommen wollen, aber er hatte abgewehrt. »Schone deine Kräfte. Außerdem ist es besser, wenn jemand am Telefon bleibt.«
Als Kind hatte Virginia immer zu heftigem Fieber geneigt, wenn sie krank war, und ähnlich wie jene Fiebernächte war auch die Nacht, die auf Kims Verschwinden folgte. Unwirklich. Voll innerem Aufruhr. Verzweifelt. Von seltsamen Bildern und Stimmen erfüllt.
Frederic kam zurück, nach Stunden. Allein.
Sie hatten Kaffee getrunken, hinausgestarrt in die Finsternis. Der Regen ließ nach gegen Morgen. Sie hörten, dass Wind aufkam. Er rauschte in den herbstlichen Bäumen. Schließlich sickerte erstes Tageslicht zwischen den hohen Wipfeln hindurch, bahnte sich einen schmalen Streifen in das Wohnzimmer und ließ Virginias und Frederics übermüdete Gesichter noch fahler erscheinen.
»Gegen neun wollte die Polizei da sein«, sagte Frederic.
»Ich koche noch mal Kaffee«, sagte Virginia. Sie hatte schon viel zuviel davon getrunken, aber sie hielt sich an der Wärme der gefüllten Tassen fest wie an einem allerletzten Strohhalm.

U
nd nun also war Superintendent Jeffrey Baker da, ein sympathischer, großer Mann, der Ruhe und Autorität ausstrahlte, und doch war es der Beginn des eigentlichen Entsetzens: plötzlich der Polizei gegenüberzusitzen und über ein Kind zu sprechen, das seit nunmehr sechzehn Stunden von niemandem mehr gesehen worden war.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 03.04.2007