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Ansturm auf digitalen Freizeitpark

»Second Life« entwickelt sich zum am schnellsten wachsenden Internet-Angebot

Von Dietmar Kemper
Bielefeld (WB). Willkommen im zweiten Leben! Um sich dort zu bewegen, muss niemand sterben und wiedergeboren werden. Ein paar Mausklicks genügen, und das zur Zeit angesagteste Angebot im Internet öffnet sich. Mit mehreren zehntausend neuen Nutzern jeden Tag zählt »Second Life« zu den am schnellsten wachsenden Plattformen. Die Zahl der registrierten »Bewohner« liegt bei mehr als 4,5 Millionen.

Viele von ihnen sind Premium-Mitglied und überweisen jeden Monat 9,95 Dollar, um Boden kaufen zu können. Als Siedler bauen sie dann Häuser, richten Geschäfte ein, erwerben Inseln.
Inseln sind teuer: Eine kostet 1675 echte Dollar, hinzu kommen 295 Dollar Betriebskosten im Monat. Diese Summen können sich meist nur Firmen leisten, die dann gleich mehrere Inseln für Werbezwecke kaufen. So wie der Computerriese IBM, der bereits 24 Eilande besitzt. Die Bewohner von »Second Life« zahlen untereinander mit »Linden Dollar«: 270 davon gibt es für einen echten US-Dollar. Die virtuelle Währung erinnert daran, wer die künstliche Welt 2001 geschaffen hat: die Firma Linden Lab aus dem kalifornischen San Francisco. Mitgliedsbeiträge und die Einnahmen aus dem Verkauf von Inseln sichern die Arbeitsplätze der 150 Mitarbeiter. Linden Lab stellt den Nutzern die Software zur Verfügung, mit der sich Gebäude, Autos, Kleidung und Waren aller Art konstruieren lassen. »Second Life« sei »eine Art digitales Lego«, schrieb die »Zeit«.
Das Internet bietet immer vielfältigere Nutzungsmöglichkeiten. Erst diente es Wissenschaftlern zum Informations- und Meinungsaustausch, heute holt sich jeder über die Suchmaschine Google das Wissen, das er braucht. Im Internet wird außerdem gechattet, eingekauft und gespielt. Erst Fußball und Autorennen, jetzt das wirkliche Leben in 3D namens »Second Life«. Aber im Gegensatz zum wirklichen Leben lassen sich im virtuellen die eigenen Schwächen verschleiern. »Second Life« ist ein gigantischer Maskenball. Auf ihm gibt es nur Gewinner. So wie in den Chatrooms geben sich Menschen größer als sie sind, die Mieter im echten Leben protzen mit Polygon-Villen im künstlichen Dasein. Männer tun so, als wären sie Frauen und umgekehrt.
Das elektronische, zweite Ich lässt sich frei gestalten, so wie eine Knetgummimasse. Die Option, anders zu leben, macht den digitalen Freizeitpark verführerisch. Nicht zuletzt ist »Second Life« eine gigantische Kontaktbörse. Hörbar mit anderen Bewohnern zu reden, ist noch nicht möglich, aber bald soll Sprache eingeführt werden.
Trotzdem bleibt eine Frage: Ist »Second Life« so spannend wie die Realität? Nein, meint der amerikanische Internet-Experte und Autor des Buches »Die Wüste Internet: Geisterfahrten auf der Datenautobahn«, Clifford Stoll. »Wir verpfänden unsere Lebenszeit an einen Unort«, schreibt er. Die virtuelle Welt sei ein »armseliger Ersatz«, der viele Enttäuschungen bereit halte. Offenbar gebe es ein »unstillbares Begehren nach Vernetzung«, nach »einer Gemeinschaft, die unsere realen Wohnviertel nicht bieten«. Dennoch sei das Leben in der wirklichen Welt »bei weitem interessanter, wichtiger und reicher, als irgend etwas auf dem Computerbildschirm«.
Anstatt in einer Welt zu leben, »die nicht existiert«, könnten Menschen Tomaten anpflanzen, freiwillig im Krankenhaus arbeiten, mit dem Lehrer ihrer Kinder sprechen und mit dem Nachbarsjungen Ball spielen. Angebote wie »Second Life« seien Maskenbälle, meint Clifford Stoll. Die Teilnehmer seien aneinander nicht wirklich interessiert. Stoll: »Computernetze isolieren uns eher voneinander, als uns zusammenzubringen. Wir brauchen uns nur mit einem Teil des Individuums am anderen Ende der Leitung auseinandersetzen. Und wenn uns der nicht gefällt, ziehen wir den Stecker.«

Artikel vom 15.03.2007