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»Kindesmissbrauch ist vermeidbar«

Elke Teckentrup holt sexuellen Missbrauch in der Familie aus der Tabuzone

Altkreis Halle (WB). Sexueller Missbrauch im Nahbereich, in der Familie - ein Thema, das nach wie vor mit einem Tabu behaftet ist. Aufklärungsarbeit leistet bei der Kreispolizeibehörde seit 1997 Elke Teckentrup (41). Sie redet über das Tabuthema bei Elternabenden, in Schulen und Kindergärten, schult Schwimmmeister, weil sich Täter auch gern in Hallen- und Freibädern ihre Opfer suchen. Mit Elke Teckentrup sprach WESTFALEN-BLATT-Redakteurin Monika Schönfeld.

Wie kann man die Täter charakterisieren?
Elke Teckentrup: Die Täter erhalten Lustgewinn durch Macht. Es sind häufig schwache Persönlichkeiten. Sie sind nicht krank. Sie sind schuldfähig und verantwortlich. Wenn man sie sieht, glaubt man es nicht, dass sie zu solchen Taten fähig sind. Sie sind ganz normale Menschen mit ganz normalen Berufen. Es gibt keine Lolita-Theorie. Ein Rollenspiel ist nie eine Aufforderung zum Missbrauch.

Wie gehen die Täter in der Familie vor?
Elke Teckentrup: In der Familie bedenken sie die Kinder mit Aufmerksamkeit. Es wird schnell geschäftlich: Streichelst du mich, kaufe ich dir die Barbie-Puppe. Standardsituation: Das Kind soll dem Mann die Hand aufs Glied legen. Das Kind erschreckt sich, bekommt Not. Es hofft, sich getäuscht zu haben. Als Erwachsener würde man sagen, man glaubt, man sei im falschen Film. Dann setzt der Geheimhaltungsdruck ein. Die Kinder schämen sich abgrundtief und haben ein großes Schuldgefühl. Der Täter nutzt das und erpresst das Kind. Wenn du etwas sagst, läuft Mama weg und du musst ins Heim. Der Täter bürdet dem Kind die Verantwortung für die ganze Familie auf.

Warum tun sich Mütter und Menschen aus dem Umfeld so schwer, wenn sie einen Verdacht haben?
Elke Teckentrup: Manchmal hat die Familie gerade ein Haus gebaut, Kredite laufen. Viele befürchten den Gesichtsverlust, das soziale Gefüge stürzt ein. Kommt der Mann ins Gefängnis, bricht das komplette Leben der Familie zusammen. Das hindert auch Außenstehende, genau hinzugucken. Sie fragen sich immer, was ist, wenn es doch nicht so ist.

Holen sich Kinder Hilfe? Sprechen sie darüber?
Elke Teckentrup: Kinder sind loyal bis an den Abgrund. Würden Menschen genau hinsehen, könnte man den Missbrauch bemerken. Ich schule Erzieherinnen, genau hinzugucken, wenn ihnen etwas auffällt. Ein Kind spielt Missbrauchssituationen mit Puppen nach. Es muss aber sprechen, sonst kann die Polizei nichts tun. Ein Kind braucht acht bis 15 Anläufe, bis es gehört wird, bis ihm geglaubt wird. Sie geben Zeichen, dass sie Hilfe brauchen. Selbst Erwachsene würden nach so vielen Anläufen aufgeben.

In welchem Alter werden Kinder missbraucht?
Elke Teckentrup: Missbrauch gibt es in allen Kulturen und Schichten. Im Kreis Gütersloh war das jüngste Opfer sechs Monate alt. Die meisten sind im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren.

Welche Folgen hat sexueller Missbrauch für die Kinder?
Elke Teckentrup: Es sind psychische Schäden. Die äußern sich später in der Sucht. Fress- oder Magersucht, Tablettenabhängigkeit, Drogen- und Alkoholmissbrauch. Eine Studie hat ergeben, dass 80 Prozent der Junkies in Köln als Kind sexuell missbraucht worden sind. Das wirft vielleicht mal ein anderes Licht auf diese Menschen.

Wie kann man die Kinder stark machen?
Elke Teckentrup: Eltern müssen Gefühle der Kinder ernst nehmen. Sagt das Kind, die Strumpfhose kratzt, die Mutter aber, die kratzt nicht, empfindet das Kind seine Gefühle als falsch. Das müssen Eltern begreifen. Wichtig ist immer, miteinander zu reden. Wenn das Kind keine Lust hat, sein Zimmer aufzuräumen, muss man ihm erklären, dass es Pflichten gibt, die die Erwachsenen auch nicht immer gerne erledigen. Kinder brauchen Unterstützung. Niemals dürfen Eltern sagen, da musst du alleine durch. Eltern müssen Zeichen setzen, mitgehen, wenn das Kind sich zum Beispiel vom Busfahrer ungerecht behandelt fühlt. Eltern müssen Kindern helfen, sich gegen Erwachsene zu behaupten. Vertrauen ist die Basis, dass ein Kind offen über alles spricht.
Außerdem dürfen Eltern Geschlechtsteile nicht tabuisieren. Der Penis ist ein Penis, die Scheide ist die Scheide. Das gehört zu uns wie Nase und Ohren. Ich erlebe oft, dass Kinder die Geschlechtsteile nicht benennen können und anfangen zu weinen.

Artikel vom 15.03.2007