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Wir sollten sofort die Polizei benachrichtigen«, sagte Virginia. Ihre Stimme klang schrill.
Verdammt, nicht Kim! Nicht Kim!
Nathan legte ihr die Hand auf den Arm. »Ich vermute, die würden jetzt noch gar nichts unternehmen«, sagte er. »Kim ist noch nicht sehr lange fort, und sie ist auch nicht auf dem Schulweg, dem Spielplatz oder von sonst einem öffentlichen Ort verschwunden. Sie war hier im Haus. Niemand ist gekommen und hat sie von hier weggeholt, das halte ich zumindest für sehr unwahrscheinlich.«
»Aber sieÉ«
Der Druck seiner Hand auf ihrem Arm verstärkte sich. Selbstsicher und beruhigend. »Es gibt keine Übereinstimmung mit den Geschichten der beiden anderen kleinen Mädchen. Keinerlei Parallelen. Ich denke, wir finden sie.«
Sie atmete tief durch. »Okay. Okay, wir suchen sie. Aber wenn wir sie innerhalb der nächsten Stunde nicht finden, rufe ich die Polizei an.«
»In Ordnung«, stimmte Nathan zu.
»Wir haben Taschenlampen«, sagte Grace.
Sie hustete und weinte, während sie sich vor Virginia und Nathan her zum Pförtnerhaus schleppte. In der hell erleuchteten Haustür stand Livia. Sie starrte ihren Mann an. Sie war totenblass.
»Nathan«, sagte sie.
Er zog nur die Augenbrauen hoch. Virginia hielt den Kopf gesenkt. Sie wagte es nicht, Livia anzusehen.
»Das ist jetzt nicht der Moment zum Reden«, sagte Nathan sehr bestimmt, als Livia erneut den Mund öffnete. Sie zuckte zusammen, schwieg.
Grace kam mit zwei großen Taschenlampen aus der Küche. »Die sind sehr stark. Damit müsste es gehen.«
»Soll ichÉ mitkommen?«, fragte Livia leise.
Nathan schüttelte den Kopf. »Bleib hier bei Grace. Kümmere dich um sie. Sie glüht ja vor Fieber. Virginia hat ihr Handy dabei. Wenn wir Hilfe brauchen, melden wir uns.«
Wieder verstummte Livia. Die gräuliche Blässe ihrer Wangen vertiefte sich noch ein wenig. Wortlos und hilflos sah sie zu, wie ihr Mann und die andere Frau zwischen den Bäumen verschwanden.
Grace, obwohl soeben noch so gereizt über die zögerliche Art der jungen Deutschen, legte ihr nun in einer mitfühlenden Geste den Arm um die Schultern.
»Sie sind ja bleich wie der Tod«, sagte sie. »Ich glaube, Sie kippen mir gleich um. Wissen Sie was, Sie bekommen jetzt erst einmal einen Schnaps. Damit Sie wieder wie ein Mensch aussehen.«
Livia wollte protestieren, aber Grace schüttelte den Kopf.
»Nein, Sie tun, was ich sage. Wir haben da etwas, darauf schwört mein Jack. Gibt einem die Kraft zurück, sagt er immer.« Sie lächelte etwas schief und voller Mitgefühl. »Und Kraft werden Sie brauchen in der nächsten Zeit, das ist mal sicher!«

9
Nebeneinander her stolperten sie durch den Park. Zu Anfang waren sie über die breiten, sandigen Wege, die Virginia allmorgendlich entlangjoggte, gut vorangekommen, hatten mit ihren Lampen rechts und links in die Büsche geleuchtet und Kims Namen gerufen, aber irgendwann war Virginia schwer atmend stehen geblieben.
»Wenn sie sich wirklich versteckt«, sagte sie, »dann wahrscheinlich nicht hier, wo man sie leicht finden könnte. Dann ist sie bestimmt tiefer in den Park hineingelaufen, dorthin, wo sie auch immer spielt.«
»Dann müssen wir da auch hin«, sagte Nathan. Er nahm ihre Hand. »Komm. Versuch dich an die Orte zu erinnern, die sie gern aufsucht, und dort probieren wir dann unser Glück.«
Die Orte, die Kim gern aufsuchte, waren nur über Trampelpfade zu erreichen, die zum Teil so von Gestrüpp und Gebüsch zugewuchert waren, dass sie beinahe nicht mehr erkennbar waren. Im gespenstisch anmutenden Lichtkegel der Taschenlampen schien die Wildnis jedes Durchkommen zu verhindern, aber irgendwie kamen Virginia und Nathan voran, wobei sie sich immer wieder mit den Haaren in Zweigen verfingen, mit den Ärmeln ihrer Pullover an Dornenranken hängen blieben oder über Wurzelwerk stolperten.
»Das ist hier wirklich ein Paradies für Kinder«, murmelte Nathan einmal, um gleich darauf einen leisen Schmerzenslaut von sich zu geben, als ihm ein Zweig durch das Gesicht peitschte. »Verdammt, fünf Köpfe kleiner, und man käme hier ungeschorener durch. Wir werden nachher aussehen, als wären wir in eine Schlägerei geraten!«

V
irginia wollte zu den Brombeerhecken, unter denen sich Kim ein kunstvoll verschlungenes Höhlensystem angelegt hatte, zu einem kleinen Steinbruch, in dem ihre Tochter eine Stadt für ihre Puppen gebaut hatte, zu einem Wäldchen, in dem Frederic im letzten Jahr eine Hängematte angebracht hatte. Sie kannte die Plätze gut, war oft dort gewesen, aber immer nur bei Tageslicht. Im Dunkeln schien alles verändert. Mehr als einmal blieb sie ratlos stehen, weil sie nicht mehr sicher war, welche Richtung sie einschlagen sollte. Zwischendurch rief sie wieder und wieder nach Kim.
Aus dem dunklen, schweigenden Park kam keine Antwort.
Sie erreichten die Brombeerhecken, leuchteten alles, so gut es ging, ab, fanden aber keine Spur von dem kleinen Mädchen. Auch an dem Steinbruch war sie nicht zu entdecken. Virginia sank auf einen Felsen, vergrub für einen Moment das Gesicht in den Händen.
»Sie ist weg, Nathan. Sie ist weg, und ich habe das Gefühl, dassÉ«
Er kauerte sich vor sie, zog die Hände von ihrem Gesicht. »Welches Gefühl?«
»Dass er sie hat! Dieser Perverse! Nathan«, sie sprang auf, »wir vertun hier unsere Zeit! Wir müssen sofort zur Polizei! Sie ist nicht hier im Park. Warum sollte sie hier herumirren?«
»Weil sie verstört und durcheinander ist«, sagte Nathan. Nach einer kurzen Pause fügte er mit behutsamer Stimme hinzu: »Hast du mal überlegt, dassÉ Frederic etwas damit zu tun haben könnte?«
»Was?« Sie starrte ihn entgeistert an.
»Er könnte dir damit eins auswischen wollen. Du hast ihm Hörner aufgesetzt, nun siehst du, was du davon hast. Er weiß genau, wo du am besten zu treffen bist: wenn er dir das Gefühl gibt, eine pflichtvergessene Mutter zu sein.«
Abrupt, völlig übergangslos, schossen ihr bei diesen Worten die Tränen in die Augen. »Aber das bin ich doch auch! Nathan, genau das bin ich! Wäre ich nicht mit dir nach SkyeÉ«

E
r hielt immer noch ihre Hände fest, schüttelte sie leicht. »Psst! Keine Selbstanklagen. Auch Mütter können Krisen haben und ausbrechen. Du glaubtest Kim zu Hause gut versorgt. Wäre Grace nicht krank geworden und hätte sie sich richtig um Kim kümmern können, wäre die Kleine mit Sicherheit nicht so traurig über deine Abwesenheit gewesen. Dann kam noch dazu, dass auch Jack ausfiel. Es war einfach eine Verkettung unglücklicher Umstände. So etwas kann passieren.«
Sie nickte, zog ihre Hände aus seinen, wischte sich energisch die Tränen ab. »Keine Zeit zum Heulen«, sagte sie und stand auf. »Ich möchte noch bei ihrer Hängematte nachschauen. Wenn sie da nicht ist, laufen wir heim, und ich rufe Frederic und die Polizei an.«

B
is sie in dem dichten, dunklen Wäldchen die alte Hängematte gefunden hatten, waren sie völlig erschöpft. Von Kim war auch hier nichts zu entdecken, und es sah auch nicht so aus, als sei hier in den letzten Stunden oder Tagen ein Mensch vorbeigekommen. Nathan leuchtete die Umgebung ab, nirgendwo waren niedergetretenes Gras, abgebrochene Äste oder gar Fußspuren zu entdecken.
»Hier ist sie nicht, und hier war sie auch nicht«, sagte er. »Okay, dann zurück zum Haus!«
Auch während des Rückwegs hörten sie nicht auf, nach Kim zu rufen, aber sie erhielten keine Antwort. Als sie die hell erleuchteten Fenster des Pförtnerhauses zwischen den Bäumen hindurchschimmern sahen, wurde Virginia von der Hoffnung gepackt, Kim könnte inzwischen aufgetaucht sein und sich in Graces Obhut befinden. Aber kaum näherten sie sich dem Haus, kam die alte Frau schon herausgelaufen.
»Haben Sie sie gefunden?«, rief sie. »Haben Sie sie mitgebracht?«
Livia tauchte hinter ihr auf. Nathan tat so, als sei sie gar nicht vorhanden. »Können wir hier telefonieren?«, fragte er.
Grace kämpfte immer noch oder schon wieder mit den Tränen. »Selbstverständlich. Der Apparat ist im Wohnzimmer.«
Virginia war schon im Haus.
»Zuerst Frederic«, sagte sie, »und dann die Polizei.«


10
Frederic war mit einigen politischen Freunden bei einem Inder zum Essen gewesen, aber er hatte an der lebhaften Unterhaltung der anderen kaum teilgenommen, hatte über weite Strecken nicht einmal mitbekommen, worum es in dem Gespräch der anderen ging. Er musste immerzu an Virginia denken, daran, was sie nun gerade auf Skye mit dem anderen Mann tat. Er hätte nie gedacht, dass er unter Bildern der Art, wie sie sich ihm soeben aufdrängten, so leiden würde, dass er überhaupt der Mensch war, der sich derartigen Fantasien hingab. Sich seine Frau in der Umarmung eines anderen vorzustellenÉ (wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.03.2007