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Die vergessenen Bahnsteige

An Gleis eins und vier im Gütersloher Hauptbahnhof herrscht noch Nachkriegszeit

Von Stephan Rechlin
Gütersloh (WB). An den Gleisen eins und vier des Gütersloher Bahnhofes herrscht noch Nachkriegszeit. Wer aus dem Zug auf die Bahnsteige tritt, landet in notdürftig geflickten Bombenkratern. »Kein schöner Anblick für die Kunden von Bertelsmann und Miele oder für die Gäste der Landesgartenschau und des Landesturnfestes«, sagt der ehemalige Landtagsabgeordnete Jürgen Jentsch.

Nicht nur der Anblick ist ein Problem. Jahrzehntelang wurden die durch amerikanische Bomben beschädigten Stellen immer nur notdürftig mit Asphalt und Beton ausgeflickt. Halt bekamen die Bahnsteige dadurch nie. Nun drohen sie, in sich zusammenzusacken. »Ein Frage der Zeit«, fürchtet Jentsch.
In einem »Brandbrief« weist er Hans Besser, den neuen Qualitätsmanager der Deutschen Bahn AG, auf die Situation im Gütersloher Hauptbahnhof hin. In dem Brief erwähnt Jentsch auch die schon seit Monaten nicht mehr funktionierenden Anzeigetafeln und die defekte Lautsprecheranlage. In der Bahnzeitschrift »Mobil« hatte Jentsch gelesen, dass Besser aus Ostwestfalen stammt: »Damit sind Sie ja mit unseren Verhältnissen gut vertraut.«
Gut vertraut ist auch Rudolf Herrmann (77) mit den Verhältnissen am Gütersloher Hauptbahnhof. Herrmann arbeitete 44 Jahre für die Bahn und gehörte dem Bautrupp an, der zu Ostern 1945 die zerstörten Bahnsteige reparieren sollte. Mit ihrer zweiten Angriffswelle auf Gütersloh hatten die Alliierten ganze Arbeit geleistet. Am 14. März 1945 hatten mindestens zehn amerikanische Fliegerbomben die 1927 gebauten Bahnsteige getroffen und schwer beschädigt.
»Ich erinnere mich noch gut daran, dass wir 1945 die ersten Bombentrichter an den Bahnsteigkanten zunächst mit alten Holzschwellen ausgeflickt haben.« Aber das sei kein Dauerzustand gewesen. Der Plattenbelag sei wegen Materialmangels nicht erneuert, sondern alle Bombentrichter nur mit Sand verfüllt worden. »Bei Regen oder Sturm sackte der Sand aber immer wieder ab oder wehte davon.«
Später seien an den wichtigsten Stellen Schalbretter aufgestellt und mit Bauschutt und Zement verfüllt worden - eine ständige Unfallgefahr für Reisende. Eine halbwegs ernsthafte Reparatur wurde nach der Währungsreform (1948) begonnen, als es wieder Baumaterial gab. »Die beschädigten Stellen wurden mit vorgefertigten Kantenstücken geschlossen.« Das hielt einige Jahrzehnte. Als die Bombenschäden am Belag und den Bahnsteigkanten wieder sichtbar wurden, habe die Flickschusterei mit Asphalt und Beton eingesetzt: »Das gilt bis zum heutigen Tag.« Die große Chance einer nachhaltigen Instandsetzung sei 1977/78 verpasst worden. Damals wurden die Gleise zwei und drei samt Bahnsteigkanten erneuert, um schnellzugtauglich zu werden. Die Nachkriegskanten aber blieben so, wie sie waren: »Es war schlicht kein Geld mehr da.«
Ein Versäumnis, das noch teuer werden könnte. Noch immer sacken die Bahnsteige ab, jedes Jahr ein wenig tiefer. »Auf Bahnsteig eins würde ein abgestellter Kinderwagen schon heute ohne Anschub auf die Gleise rollen«, sagt Herrmann. Bei geschlossenen Augen jagt ihn das Horrorszenario eines im Gütersloher Bahnhof entgleisenden ICE: »Wenn es weiter sackt, wäre das möglich.« Für den ehemaligen Landtagsabgeordneten Jürgen Jentsch steht fest: »Die Zeit der Flickschusterei im Gütersloher Bahnhof ist vorbei. Hier muss grundsaniert werden.«

Artikel vom 07.03.2007