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Und in diesem Strudel starker, ihn mitreißender Gefühle hatte er überhaupt nicht bemerkt, wie schwach die Resonanz auf der anderen Seite ausfiel. Es kamen Lippenbekenntnisse zurück - obwohl sie keineswegs allzu häufig ein Ich liebe dich hervorgebracht hatte -, und sie hatte ziemlich rasch eingewilligt, seine Frau zu werden. Aber während er geglaubt hatte, sterben zu müssen, wenn sie ihn nicht heiratete, war sie gleichmütig gewesen, am Tag der Trauung so in sich gekehrt wie sonst auch.
Er starrte ein junges blondes Mädchen an, das an den Lippen eines langhaarigen Mannes hing und fasziniert den Worten zu lauschen schien, die er sprach. Natürlich stimmte es nicht, wenn er es sich richtig überlegte, dass er nichts bemerkt hatte. Ja, genau genommen war er sogar manchmal unglücklich gewesen über die Kühle, die von ihr ausging. Aber er hatte ihre Art verantwortlich gemacht, ihre Neigung zur Schwermut, die Melancholie, die tief in ihr wurzelte. Keine Sekunde lang hatte er in Erwägung gezogen, es könnte ein Mangel an Gefühlen für ihn sein, was diese Distanz erzeugte. Wahrscheinlich hatte er es auch nicht in Erwägung ziehen wollen. Dafür war seine Liebe zu groß gewesen, hatte ihn zu sehr mitgerissen. Er, der er sich immer als einen sachlichen Vernunftmenschen beschrieben hätte, war so gefesselt gewesen von einer Frau, dass er sich die Wahrheit verschönte und zurechtrückte, bis sie genau passte, und er hatte von diesem Vorgang in sich nicht einmal etwas bemerkt. Er war das Paradebeispiel für perfekte Verdrängung. Und das Ende vom Lied war, dass er an einem regnerischen Septembertag im Hyde Park stand, frustriert und müde den Liebespaaren zusah und dabei wusste, dass sich seine Frau, die Frau, die er mehr liebte als alles andere auf der Welt, in seinem Ferienhaus auf den Hebriden von einem hergelaufenen, zwielichtigen Typen beglücken ließ und womöglich gar nicht zu ihm zurückkehren würde. Denn wieso sollte er annehmen, dass sie das tat? Die ganzen Stunden über hatte er sich ausgemalt, wie sie reuevoll vor ihm stehen würde, nachdem Moor sie wie eine heiße Kartoffel hatte fallen lassen, wie sie reden und diskutieren würden, wie er Erklärungen fordern und sie auch bekommen würde - und wie sie sich am Ende wiederfinden würden.
Und wenn sie nicht kam?
Und wenn ich sie nicht zurücknehmen kann?, fragte er sich.

E
r tat ein paar Schritte zu einer Bank, die nass glänzte im Regen, ließ sich schwerfällig darauf fallen. Er sehnte sich eine Flasche Wodka herbei. Schöner, hochprozentiger Alkohol. Er wollte wie ein Penner auf einer Bank sitzen und das scharfe Zeug seine Kehle hinunterrinnen lassen. Um nicht darüber nachdenken zu müssen, dass er Virginia vielleicht für immer verloren hatte.
Oder dass seine eigenen Gefühle die ihnen aufgebürdete Last nicht würden tragen können.
Das konnte ebenfalls passieren, und es war vielleicht die schlimmste aller vorstellbaren Möglichkeiten.


4
E
s war fünf Uhr am Nachmittag, als Ken Jordan an der Haustür der Familie Lewis klingelte. Er kannte Margaret und Steve Lewis, Julias Eltern, recht gut; sie waren aktive Mitglieder der Gemeinde und verzichteten kaum einen Sonntag auf den Kirchenbesuch. Er wusste, dass Julia eng mit Rachel Cunningham befreundet gewesen war. So verwunderte es ihn nicht, dass Margaret Lewis verweinte Augen hatte, als sie ihm öffnete. Sie hatte schon am Vormittag während seiner Predigt, in der er ausführlich über Rachel und ihr schreckliches Schicksal gesprochen hatte, immer wieder leise vor sich hin geschluchzt.
»Ich hoffe, ich komme nicht völlig ungelegen«, sagte Ken, »aber es ist sehr wichtig.«
Sie ließ ihn eintreten. »Nein, im Gegenteil, ich bin froh, Sie zu sehen, Herr Pfarrer. Ich muss heute den ganzen Tag weinen. Vielleicht, weil es genau vor einer Woche war, alsÉ« Sie biss sich auf die Lippen. Ihre Stimme versagte.
»Wir alle können es nicht fassen«, sagte Ken.
»Wer tut so etwas? Wer tut etwas so Furchtbares?«
»Derjenige muss krank sein«, sagte Ken. »Ein schwer kranker Mensch.«
Er folgte ihr ins Wohnzimmer. An dem kleinen, runden Tisch im Erker saß Steve Lewis vor einer Tasse Tee. Er erhob sich. »Herr Pfarrer! Wie schön, dass Sie uns besuchen. Setzen Sie sich bitte.«
Ken nahm Platz, und Margaret brachte eine weitere Tasse und schenkte ihm Tee ein.

V
or allen Dingen möchte ich mit Julia sprechen«, sagte Ken, »aber zuvor eine Frage an Sie: Hat Julia vor dem Kindergottesdienst in der letzten Woche etwas von einem geplanten Diavortrag erwähnt? Den ein Pfarrer aus London halten sollte?«
Margaret und Steve sahen ihn verwirrt an. »Nein. Sie hat nichts dergleichen erwähnt.«
»Ich möchte mich nicht in die Arbeit der Polizei einmischen«, sagte Ken, »oder auf dilettantische Art Detektiv spielen. Aber ich wurde stutzig. Ich war heute früh bei Rachels Mutter.« Kurz berichtete er, was Claire erzählt hatte. »Heute am frühen Nachmittag erreichte ich endlich Donald Asher. Es hätte ja sein können, dass er irgendetwas geplant, mir aber nichts erzählt hatte, obwohl das sehr ungewöhnlich gewesen wäre. Tatsächlich war aber auch Don nichts von einem Diavortrag bekannt. Er hat keine Ahnung, was Rachel gemeint haben könnte. Und nun denke ichÉ«
»Ja?«, fragte Steve mit gespannter Aufmerksamkeit.
»Vielleicht ist das ganz dumm. Aber es könnte doch sein, dass es da einen Zusammenhang gibt. Zwischen Rachels Verschwinden und ihrer Ermordung und diesem eigenartigenÉ Gerede von einem ominösen Pfarrer aus London, den weder Asher noch ich kennen.«
»In der Tat ist das seltsam«, stimmte Steve zu.
»Ich hole Julia«, sagte Margaret.
Julia kam aus ihrem Zimmer herunter. Sie sah blass aus und nicht mehr so fröhlich wie noch eine Woche zuvor. Ihre beste Freundin war tot und würde nie mehr wiederkommen. Ken Jordan hatte den Eindruck, dass Julia fast noch unter Schock stand.
»Der Pfarrer möchte dich sprechen, Julia«, sagte Margaret.

S
ie starrte ihn aus großen Kinderaugen an. Er fragte sich plötzlich, was diese Geschichte aus ihr und ihrem Leben machen würde.
Er lächelte sie an. »Nur eine kurze Frage, Julia. Dann kannst du gleich wieder nach oben zum Spielen gehen.«
»Ich spiele nicht«, korrigierte ihn Julia.
»Nein?«
»Nein. Ich denke an Rachel.«
»Du hast Rachel sehr lieb gehabt, nicht?«
Julia nickte heftig. »Sie war meine beste Freundin.«
»Die beiden waren ja fast wie Schwestern«, meinte Margaret.
»Wie SchwesternÉ«, sagte Ken. »Dann habt ihr einander alles anvertraut, stimmtÕs? Ich wette, du wusstest alles über Rachel. Vielleicht sogar mehr als Rachels Mum und ihr Dad?«
»Ja«, sagte Julia.
»Dann hat Rachel dir bestimmt auch von dem Diavortrag erzählt? Den ein Pfarrer aus London bei euch im Kindergottesdienst halten wollte?«
Julias Augen weiteten sich. Ein Flackern huschte durch ihren Blick.
Volltreffer, dachte Ken.
»Sie hat dir davon erzählt?«, hakte er nach.
Julia schwieg. Sie starrte auf ihre Fußspitzen.
»Julia, wenn du etwas weißt, musst du es sagen«, mahnte Steve, »das ist sehr wichtig.«
»Donald Asher weiß nichts von solch einem Vortrag«, fuhr Ken fort, »und das bedeutet, dass Rachel es von irgendjemand anderem gehört haben muss. Jemand hat ihr davon erzählt. Weißt du, wer das war?«
Julia schüttelte heftig den Kopf.
»Aber du weißt, dass ihr jemand davon erzählt hat?«
Julia nickte. Immer noch sah sie keinen der Erwachsenen an.
»Bitte, Julia, sag uns, was los ist«, bat Margaret, »vielleicht hilft es, den Menschen zu finden, der RachelÉ der Rachel etwas so Schlimmes angetan hat.«
Mit kaum hörbarer Piepsstimme sagte Julia: »Ich habe Rachel versprochenÉ«
»Was?«, fragte Ken behutsam. »Was hast du Rachel versprochen? Mit niemandem über den Pfarrer aus London zu sprechen?«
Wieder ein Nicken.
»Aber weißt du, ich bin sicher, dass Rachel nun nichts mehr dagegen hat, wenn du dein Versprechen brichst. Vielleicht ist jemand sehr böse zu ihr gewesen. Hat sie gequält. Jemand, dem sie vertraut hat. Sie würde wollen, dass dieser Mensch bestraft wird.«
»Julia, du musst sagen, was du weißt«, sagte Steve, »du bist ein großes Mädchen, und du verstehst, dass das wichtig ist. Nicht wahr?«

J
ulia nickte erneut. Es hatte nicht den Anschein, als verstehe sie die Bedeutung, die die Erwachsenen ihrer Aussage zuschrieben, aber sie begriff das besorgte Drängen, und es hatte beruhigend geklungen zu hören, dass Rachel nichts dagegen hätte, wenn sie ihr Schweigegelübde brach.
»DerÉ der Mann hat Rachel gesagt, dass er uns Bilder zeigt. Diabilder. Über die Kinder in Indien.«
Alle hielten den Atem an.
»Welcher Mann?«, fragte Ken.
Endlich hob Julia den Blick. »Der Mann vor der Kirche.«

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 12.03.2007