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Willst du das von mir wissen?«, schrie er.
Dann knallte er den Hörer auf die Gabel.
Er starrte das Telefon an, als könne ihm der unschuldige schwarze Apparat irgendeine Erklärung für die Ungeheuerlichkeiten geben, die er gehört hatte, aber natürlich blieb er stumm. Wie das ganze Zimmer, das ganze Haus. Niemand sagte:
Das war ein Traum, Frederic. Ein böser, schlimmer Traum. Oder ein Scherz. Ein verdammt schlechter Scherz, klar, aber doch nur ein Scherz. Das alles ist nicht wirklich passiert.
Er ließ sich auf das Sofa fallen, stützte den Kopf in die Hände. Es war wirklich passiert, und vielleicht hatte er begonnen, die Wahrheit zu ahnen, als er noch auf dem Bahnhof in London stand und Virginia nicht erschien. Ja, er wusste es genau, er hatte so etwas geahnt. Seit er erfahren hatte, dass Nathan Moor in Ferndale House abgestiegen war, ohne dass ihm Virginia sofort davon erzählte, war jene dumpfe, abgründige Ahnung in ihm erwacht, nur hatte er ihr nicht erlaubt, Besitz von ihm zu ergreifen. Manche Dinge waren so unerträglich, dass es einem selbst dann gelang, sie nicht zu sehen, wenn sie in schreiend roter Farbe vor einem an der Wand standen. Er hatte immer geglaubt, er sei schlecht im Verdrängen. Diese Ansicht schien er revidieren zu müssen: Er war ein exzellenter Verdränger.

E
r hob den Kopf, starrte zum Fenster hinaus in die dunkle Wand von Bäumen. Die Bäume, an denen Virginia festgehalten hatte, die wie ein Sinnbild für ihr seltsam verschlossenes, melancholisches Wesen waren. Eben gerade am Telefon hatte sie anders geklungen. Keine Spur mehr von der Traurigkeit, die sie zu jeder Minute umgeben hatte, seit er sie auf jener Zugfahrt durch die frühe winterliche Dunkelheit angesprochen hatte. Er hatte damals erfahren, dass ihr langjähriger Lebensgefährte sie verlassen hatte und unauffindbar untergetaucht war, weil er sich die Schuld am tragischen Tod eines kleinen Jungen aus der Nachbarschaft gab. Er hatte es als verständlich und natürlich empfunden, dass sie wegen dieser Geschichte viel grübelte und häufig in sich gekehrt und traurig war. Irgendwann hatte er sich so an ihren Kummer gewöhnt, dass er gar nicht mehr darüber nachgedacht hatte, ob es eigentlich normal war, dass dieser über Jahre anhielt. Der Kummer war einfach ein Teil von Virginia gewesen, etwas, das zu ihr gehörte, wie ihre Arme und Beine, ihre blonden Haare und ihre dunkelblauen Augen. Virginia war eben oft unglücklich. Mied andere Menschen. Lebte in einem Haus, das so sehr von Bäumen zugewuchert wurde, dass man selbst an sonnigen Sommertagen das Licht in den Räumen einschalten musste. Er hatte sich über all das niemals wirklich gewundert.

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ätte er sich wundern müssen? Hätte er mit ihr sprechen müssen? Konnte er sich Gleichgültigkeit vorwerfen, Blindheit? Er hatte ihre andauernde, einmal stärker, dann weniger stark ausgeprägte Depression durchaus bemerkt. Wäre er verpflichtet gewesen, nachzuforschen, ihr Hilfe anzubieten? Natürlich hatte er sie oft gefragt, ob es ihr gut gehe. Ihre Antwort, alles in Ordnung, hatte ihn zufrieden gestellt, obwohl er, wie ihm jetzt klar wurde, immer gespürt hatte, dass auf irgendeine Weise eben nicht alles in Ordnung gewesen war. Aber es war bequemer gewesen, sich mit dieser Auskunft zufrieden zu geben, als Nachforschungen anzustellen. Ihr alles in Ordnung in den Ohren, war er wieder und wieder für lange Tage nach London abgereist, um seine politische Karriere voranzutreiben. Musste er sich das vorwerfen?
Es ist, verdammt, kein Grund, mit einem anderen Mann ins Bett zu steigen, dachte er. Wir sind verheiratet, wir haben ein Kind zusammen. Wenn sie unglücklich mit mir war, hätte sie mir das sagen müssen. Wir hätten reden können. Eine Eheberatung aufsuchen. Was weiß ich. Wir hätten kämpfen können. Aber man darf doch nicht einfach abhauen!
Und überhaupt schien es ihm völlig absurd, dass ausgerechnet der Hochstapler Nathan Moor, der Pleitegeier und Habenichts, der Aufschneider vom Dienst, innerhalb weniger Tage den Weg zu Virginias Seele gefunden haben sollte. Zu jenem Ort, an dem ihre Traurigkeit geboren wurde. Zu jenem Ort, den er, Frederic, nie entdeckt hatte. Hatte Nathan Moor etwas berührt, das niemand zuvor zu berühren vermocht hatte?
Unsinn, entschied er, verdammter Unsinn.
Aber was war es dann?

M
it müden Bewegungen stand er auf. Kim würde bald wach werden. Und Livia auch. Sollte er ihr sagen, was geschehen war? Aber er verspürte nicht die geringste Lust, mit diesem Trauerkloß zusammenzusitzen und plötzlich in einem gemeinsamen Schicksal vereint zu sein. Zwei Gehörnte, die darauf warteten, dass ihre treulosen Ehepartner irgendwann zurückkehrten. Falls sie überhaupt vorhatten, dies jemals zu tun.

Ich fahre nach London zurück, beschloss er, ich setze mich nicht hierher und stehe zu ihrem Empfang bereit, wenn sie auf einmal genug bekommt von ihrem neuen Lover. Oder wenn sie sich erinnert, dass sie ein Kind hat, für das sie verantwortlich ist.
Dann kann sie auf mich warten.

2
Es war auf den Tag genau eine Woche her, seit Rachel verschwunden war.
Heute war Sonntag, der 3. September. Am Sonntag, den
27. August hatte sie sich auf den Weg zur Kirche gemacht, und dann war sie nicht mehr aufgetaucht, und Robert hatte bei der Polizei ihre Leiche identifizieren müssen.
Vor einer Woche. Es war, als liege eine Welt, ein Leben, eine Unendlichkeit dazwischen.
In all der Qual der vergangenen Tage erschien Claire Cunningham dieser Sonntagmorgen als besonders quälend. Der Ablauf der Stunden, wie er sich genau sieben Tage zuvor gestaltet hatte, stand ihr ständig vor Augen.
Um diese Zeit bin ich aufgestanden. Jetzt war ich in der Küche und bereitete das Frühstück vor. Ungefähr jetzt tauchte Rachel in der Küche auf. In ihrem hellblauen Schlafanzug mit dem Pferdekopf vorn auf der Brust. Ich habe geschimpft, weil sie barfuß war und die Steinfliesen in der Küche immer so kalt sind. Habe ich richtig geschimpft? Nein. Ich war ein bisschen ungehalten, weil ich ihr tausendmal gesagt hatte, sie soll morgens ihre Hausschuhe anziehen.

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eil sie so leicht eine Halsentzündung bekommt. Weil sie so leicht eine Halsentzündung bekam. Wir hatten keinen Streit. Ich sagte nur, verflixt, Rachel, musst du schon wieder ohne Schuhe herumlaufen? Wie oft soll ich dir sagen, dass der Boden zu kalt ist? Sie brummte irgendetwas. Ging wieder hoch in ihr Zimmer, kehrte in Hausschuhen zurück. Wir stritten nicht, nein. Ich schimpfte nicht. Es war nicht so, dass ich an ihrem letzten Tag mit ihr geschimpft hätte.
Sie hatte zuvor gar nicht an diese Episode gedacht. An die Hausschuh-Episode. Sie war ihr erst nach der gestrigen Begegnung mit Liz Alby eingefallen. Weil Liz nicht hatte aufhören können, sich wegen des Karussells anzuklagen. Offenbar hatte sie ihrer kleinen Tochter nicht nur den Wunsch nach einer Runde auf dem Karussell abgeschlagen, sie war auch sehr unfreundlich und gereizt wegen Sarahs Gequengel gewesen.

Wenn ich wenigstens wüsste, sie ist in ihren letzten Stunden glücklich gewesen«, hatte Liz gesagt, als sie in dem kleinen Café am Marktplatz einander gegenüber saßen. Liz hatte einen Kaffee getrunken, Claire hatte sich nur einen Tee bestellt. Essen mochten sie beide nichts. Claire hatte seit Rachels Verschwinden ohnehin fast nichts mehr zu sich genommen. Ihr Magen fühlte sich an, als sei er fest verschlossen. »Wissen Sie, Claire, wenn ich sie vor mir sehen könnte, wie sie auf dem Karussell sitzt und laut schreit vor Glück, und ihre Haare fliegen im Wind. Es wäre leichter.« Dann war sie in Tränen ausgebrochen. Claire hätte ebenfalls gern geweint, aber sie konnte nicht. Sie saß nur wie erstarrt da, rührte mit mechanischen Bewegungen in ihrer Teetasse. Sie wusste, dass Ströme von Tränen darauf warteten, endlich aus ihr herausbrechen zu können, aber seit sie die Gewissheit hatte, dass Rachel nicht mehr wiederkommen würde, war es ihr nicht gelungen, zu weinen. Es war genau wie mit ihrem Magen: Die Tränen waren eingeschlossen, eingesperrt hinter irgendeiner Tür, die sich um keinen Millimeter bewegte. Claire wusste nicht, ob sie sich wünschen sollte, dass die Tür aufging. Es gab Momente, da sie sich vorstellen konnte, dass die Tränen sie erleichtern würden. Aber in weit stärkerem Maß hegte sie Angst vor dem, was sie jenseits der Starre erwartete. Sie litt, wie sie noch nie in ihrem Leben gelitten hatte, und doch wusste sie, dass sie mit dem ganzen Ausmaß ihres Schmerzes noch gar nicht in Berührung gekommen war. Er lauerte dort, wohin eine gnädige Macht sie noch nicht gelangen ließ.

S
ie war nicht sicher, ob ihr die Begegnung mit Liz Alby irgendetwas gebracht hatte. Eigentlich hatte sie Liz auf den ersten Blick nicht besonders gemocht. Zu billig, zu gewöhnlich in ihrer ganzen Aufmachung, wenn auch vom Leid gezeichnet und daher sicher feinfühliger, als sie es zuvor gewesen war. LizĂ• Art zu sprechen und sich zu bewegen verrieten ihre einfache Herkunft. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 08.03.2007