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Er hatte sich das Auto Ihrer Frau geliehen«, fuhr sie fort, »ja, das erwähnte er noch.«
»Er hat sich hier richtig heimisch gefühlt«, sagte Frederic zynisch, »wie schön!«
Sie legte das Brot auf den Teller zurück. Ausgeschlossen, dass sie noch einen Bissen herunterbekam. »EsÉ tut mir leid«, flüsterte sie.
Frederics Stimme nahm einen versöhnlicheren Klang an. »Sie können für das alles überhaupt nichts, Livia«, sagte er, »entschuldigen Sie, wenn mein Ton grob war. Es ist nurÉ ich mache mir größte Sorgen. Es passt nicht zu Virginia, einfach unterzutauchen und sich nicht mehr zu melden. Nicht einmal bei den Walkers hat sie angerufen, um sich nach Kim zu erkundigen oder ihr gute Nacht zu sagen. Das ist so absolut ungewöhnlich, dass ichÉ« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Er stellte seine Tasse ab, trat auf den Tisch zu, stützte beide Arme auf und sah Livia eindringlich an.

I
ch muss wissen, was mit Ihrem Mann los ist, Livia«, sagte er, »und ich bitte Sie, ganz offen zu sein. Etwas stimmt doch hier nicht. Ihr Mann ist angeblich ein bekannter Schriftsteller. Trotzdem besitzt er keinen Penny. Sie beide sind deutsche Staatsbürger. Ihre Botschaft hier in England würde sofort für Sie sorgen, in erster Linie für Ihre Heimreise. Trotzdem kommt Ihr Mann nicht auf die Idee, sich dorthin zu wenden. Stattdessen klebt er wie eine Klette an meiner Familie. Meine Frau packt ihren Koffer für eine Reise zu mir nach London, kauft das Bahnticket und ist nun spurlos verschwunden. Mit ihr Ihr Mann Nathan Moor und das Auto. Livia, was, zum Teufel, geht hier vor?«
Er war sehr laut geworden am Ende. Livia zuckte zusammen.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Ihre Stimme schwankte. Sie musste aufpassen, dass sie nicht in Tränen ausbrach. »Ich weiß nicht, was hier vorgeht. Ich weiß nicht, wo mein Mann ist.«
»Sie sind seine Frau. Sie müssen ihn kennen. Sie müssen etwas über sein Leben wissen. Sie können nicht so ahnungslos sein, wie Sie jetzt tun!«
Sie zog die Schultern hoch, hätte sich am liebsten in sich selbst verkrochen. »Ich weiß nichts«, flüsterte sie.
Seine Lippen waren schmal und weiß vor Wut. »Das nehme ich Ihnen nicht ab, Livia. Sie wissen nicht, wo er jetzt gerade ist, das glaube ich Ihnen. Aber Sie können mir Informationen über ihn geben. Und zwar solche, die mir vielleicht dabei helfen, etwas über den Verbleib meiner Frau herauszufinden. Verdammt noch mal, Sie werden mir alles sagen, was Sie wissen. Das sind Sie Virginia schuldig nach allem, was sie für Sie getan hat!«
Sie begann zu zittern. »ErÉ er ist kein schlechter Mensch. Er würdeÉ er würde Virginia nichts antunÉ«
Frederic lehnte sich noch weiter vor. »Aber?«
Ihre Stimme war nun kaum noch hörbar. »Aber es stimmt manches nicht, was erÉ«
»Was stimmt nicht?«
Sie fing an zu weinen. Das alles war ein Albtraum. Und er hatte nicht erst mit dem Untergang der Dandelion begonnen.
»Es stimmt nicht, dass er Schriftsteller ist. Das heißt, er schreibt schon, aberÉ aber es ist noch nie etwas veröffentlicht worden. NochÉ noch nicht eine einzige Zeile.«
»Habe ich es mir doch gedacht. Wovon haben Sie gelebt in all den Jahren?«
»VonÉ von meinem Vater. Ich habe ihn versorgt. Dafür wohnten wir bei ihm und lebten von seiner Pension. Nathan schrieb, ich kümmerte mich um Haus und Garten.«
Frederic nickte grimmig. »Der Bestsellerautor! Ich hatte sofort ein dummes Gefühl. Ich wusste, dass mit diesem Mann etwas nicht in Ordnung ist.«
»Mein Vater starb im letzten Jahr. Ich erbte sein Haus, das allerdings noch mit einer hohen Hypothek belastet war. Zudem war es alt und verwohnt. Der Verkauf brachte nicht allzu viel Geld, aber es hätte gereicht, Nathan und mich für eine Weile über Wasser zu halten. Ich hatte gehofft, dass Nathan in dieser Zeit versuchen würde, eine Arbeit zu finden. Dass er endlich aufhören würde zu glauben, zum großen Schriftsteller berufen zu sein.«
»Aber so kam es nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. Die Erinnerung an die trostlose Kälte jener Zeit breitete sich wieder in ihr aus. Ihr Flehen und Bitten. Ihre Versuche, eine Arbeit zu finden. Gleichzeitig die stetig wachsende Erkenntnis, dass er weg wollte. Dass er sich gar nicht bemühen würde, Livia und sich ein Heim, eine sichere Existenz zu schaffen.
»Nathan hat nie einen richtigen Beruf ausgeübt. Er hat Verschiedenes studiert: Anglistik, Germanistik, GeschichteÉ Was soll man damit anfangen? Aber er versuchte es auch gar nicht. Stattdessen kam er wieder auf die Weltumsegelung zu sprechen. Damit hatte er mir schon seit Jahren in den Ohren gelegen, aber es war immer klar gewesen, dass ich meinen Vater nicht allein lasse. Doch nunÉ«
»Und da setzte er Ihr ererbtes Geld in ein Schiff um?«
Sie nickte. »Was bedeutete, dass alles weg war. Wir hatten fast nichts mehr. Seine Idee war, dass wir uns in den Häfen mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten. Er wollte an seinem Buch arbeiten. Er sagte, das würde sein Durchbruch werden. Er müsse nur endlich weg aus der Enge. Das Haus, die Kleinstadt, mein VaterÉ all das habe ihn gelähmt.«
»Wie bequem«, sagte Frederic zynisch. »Es geht nichts über die Möglichkeit, andere für das eigene Scheitern verantwortlich zu machen.«

S
ie wusste, dass er Recht hatte - und dass es doch komplizierter war. Sie dachte an das alte, düstere Haus mit den knarrenden Treppenstufen, dem muffigen Geruch zwischen den Wänden, der einfach nicht verschwinden wollte, den zugigen Fenstern, der mitten im eiskalten Winter immer wieder streikenden Heizung. An ihren halsstarrigen Vater, der so geizig geworden war, dass er sich weigerte, dringend notwendige Erneuerungen vornehmen zu lassen. Der es nicht einmal gestattete, die Wände zu streichen, um einen frischen Geruch und hellere Farben in die Räume zu bringen. Mit ihrem Vater zu leben war in den letzten Jahren eine Strafe gewesen. Die kleine Stadt, in der jeder jeden kannte, in der Tratsch und Klatsch blühten, in der jeder Schritt, jedes Wort der Mitmenschen beäugt und beurteilt wurde, musste jemanden, der das nicht gewöhnt war, in die Schwermut treiben. Sie hatte damit umgehen können. Sie war dort aufgewachsen, war beheimatet gewesen in dieser Enge. Was Nathan mit tödlich und lähmend bezeichnet hatte, war für sie doch zumindest vertraut gewesen. Und so sehr sie gelitten hatte damals nach dem Tod ihres Vaters, so sehr hatte sie auch verstanden, dass Nathan ganze Ozeane zwischen sich und den Ort hatte legen wollen, der zwölf Jahre lang sein Zuhause gewesen war.

S
ie seufzte, verzweifelt, müde und ratlos. »Wir haben nichts mehr. Absolut nichts. Sie sagen, die deutsche Botschaft würde uns helfen, zurückzukehren. Aber wohin? Wir haben kein Haus, kein Geld, keine Arbeit. Nichts, nichts, nichts! Ich kann nur vermuten, dass Nathan sich deshalb so sehr an Sie und Ihre Familie klammert. Um ein Dach über dem Kopf zu haben. Weil er buchstäblich nicht weiß, wohin er sonst gehen soll.«
Frederic richtete sich auf, strich sich langsam die Haare zurück. »Mist«, sagte er, und zweifellos meinte er damit den Umstand, dass es ausgerechnet Virginia hatte sein müssen, die zum Opfer eines auf ganzer Linie gescheiterten Traumtänzers geworden war, »verdammter Mist. Ich möchte nur wissen, was Ihr Mann sich vorstellt. Dass er sich auf ewig hier hätte einnisten können? Oder hatte er irgendwelche Pläne, wie er seine missliche Situation in den Griff bekommen wollte?«
»Er meinte, dass es einen SchadensersatzanspruchÉ«
Frederic lachte. »So dumm kann er nicht sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden Sie überhaupt nie herausfinden, wer Sie da eigentlich in jener Nacht gerammt hat. Und sollte es Ihnen doch gelingen, können sich entsprechende Prozesse über Jahre hinziehen. Wie wollte er das denn durchhalten?«
Sie hob ihren Blick, sah Frederic an.
»Ich weiß es nicht«, sagte sie, »ich weiß es wirklich nicht. Ich war sehr krank. Ich habe von den letzten Tagen überhaupt nichts mitbekommen. Ich weiß nicht, was geschehen ist in dieser Zeit. Ich weiß nicht, wo Nathan ist. Und ich weiß nicht, wo Ihre Frau ist. Ich schwöre Ihnen, ich habe keine Ahnung. Ich bitte Sie nur, mich nicht auf die Straße zu setzen. Ich weiß nicht, wohin ich gehen soll.«
Der Blick, den er ihr zuwarf, war nicht verächtlich, aber ein stummes Seufzen spiegelte sich in ihm wieder. Vor dem Gefühl, sich bis in den Staub erniedrigt zu haben, schloss sie sekundenlang die Augen.
Aber wenigstens würde er sie nicht wegschicken.


Zweiter Teil
Freitag, 1. September
1
S
ie waren schon zwei Stunden gefahren, als sie merkte, wie hungrig sie war. Beim Aufwachen in den dunklen, kalten Morgenstunden hatte sie geglaubt, nie mehr wieder einen Bissen essen zu können. Jeder Knochen in ihrem Körper schmerzte. Ihr Hals war steif; als sie den Kopf zu bewegen versuchte, entfuhr ihr ein leiser Schmerzenslaut. Eine feuchte Kälte herrschte um sie herum, und trotz der Finsternis konnte sie erkennen, dass sich undurchdringlicher Nebel auf die Erde gesenkt hatte.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 24.02.2007