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Er musste sich um sie kümmern. Sie hoffte aus tiefstem Herzen, dass die Quentins im Telefonbuch standen oder bei der Auskunft registriert waren.
Sie packte ihre wenigen Habseligkeiten in die Segeltuchtasche, die Nathan im Schrank verstaut hatte, als er sie hier ablieferte. Was das betraf, hatte sie im Übrigen noch immer den einzigen Filmriss in ihrer Erinnerung an die vergangenen zwei Wochen: Sie wusste nicht, was auf Skye geschehen war, was Nathan veranlasst hatte, sie in ein Krankenhaus zu bringen. Auch von der Reise nach Norfolk und von der Aufnahme im Krankenhaus existierten für sie keine Bilder. Ihr abgemagerter Körper zeigte ihr jedoch, dass es womöglich unumgänglich für Nathan gewesen war, sie in eine Klinik zu bringen. Die Vorstellung, dass er nicht nur nach irgendeiner Möglichkeit gesucht hatte, sie bequem zu entsorgen, beruhigte sie.

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ie murmelte einen Abschiedsgruß in Richtung ihrer Zimmergenossinnen, der jedoch nicht erwidert wurde, dann trat sie hinaus auf den Gang. Im Schwesternzimmer war man erstaunt, dass sie so früh und so schnell gehen wollte, aber sie behauptete, ihr Mann erwarte sie bereits unten in der Eingangshalle. Sie dachte, wie gut es zumindest gewesen war, dass sie sich vor der Abreise in Deutschland für den Abschluss einer Reisekrankenversicherung stark gemacht hatte. Wenigstens die Kosten für ihren Krankenhausaufenthalt waren nun kein Problem.
In der Eingangshalle unten war es zu dieser frühen Stunde recht leer. Die Cafeteria hatte noch nicht geöffnet. Ein Mann, der den Zeitschriftenkiosk betrieb, rollte soeben ein weißes Drehgestell vor die Tür seines Ladens und begann die Tageszeitungen hineinzusortieren. Er gähnte ausgiebig und schien nicht mit besonderer Fröhlichkeit an die vor ihm liegenden Stunden zu denken.
Ein alter Mann im Morgenmantel stolperte, auf seine Gehhilfe gestützt, an den Auslagen einiger Geschäfte entlang, starrte in die Schaufensterscheiben, schien aber nicht wirklich an irgendetwas, das er dort sah, interessiert zu sein. Die triste Krankenhausatmosphäre, der sich Livia schon entronnen glaubte, als sie ihr Zimmer verließ, brach noch einmal mit geballter Wucht über sie herein. Sie kannte nur zu gut ihre gefährliche Neigung zu heftigen Depressionen. Sie musste möglichst rasch hier weg.

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n einer Ecke entdeckte sie einen öffentlichen Fernsprecher, daneben lagen glücklicherweise auch etliche etwas ramponiert scheinende Telefonbücher. Sie stellte ihre Tasche ab, zog das erste Telefonbuch heran. Ihr war immer noch schwindelig, bei der kleinsten Bewegung brach ihr der Schweiß aus. Sie hatte zu lange gelegen und zu wenig gegessen. Ihr war klar, wenn Nathan sie nicht abholte, würde sie kaum hundert Meter weit kommen.
Und wohin sollte ich auch gehen?, dachte sie angstvoll.
Noch während sie entsetzt feststellte, dass es zahlreiche Quentins in KingÕs Lynn und Umgebung gab, nahm sie aus den Augenwinkeln wahr, dass sich die automatische Schiebetür öffnete, die von der Eingangshalle ins Freie führte. Ohne besonderes Interesse und eher zufällig wandte sie den Kopf. Der Mann, der in Jeans und Pullover, ungekämmt und unrasiert, das Krankenhaus betrat, kam ihr sofort bekannt vor, aber ihr Gehirn brauchte ein paar Momente, um sich zu erinnern. Noch immer schien alles bei ihr langsamer zu laufen: ihre Bewegungen, ihr Denken, selbst ihr Fühlen. Aber dann begriff sie, klappte das Telefonbuch zu und versuchte, hinter dem Mann herzulaufen, der die Fahrstühle ansteuerte.
»Mr. Quentin!«, rief sie. »Mr. Quentin, warten Sie!«
Der Schwindel, der sie überfiel, war so heftig, dass sie sich an einer der Säulen in der Mitte der Halle festhalten musste.
»Mr. Quentin!«, krächzte sie noch einmal.
Gott sei Dank hatte er sie endlich gehört. Er blieb stehen, drehte sich um, sah sie an. Kam dann mit raschen Schritten auf sie zu.
»Mrs. Moor!«, sagte er überrascht. Er starrte sie an. »Lieber Himmel, SieÉ« Er sprach nicht weiter. Sie wusste, dass sie zum Gotterbarmen aussah, sie konnte es in seinen Augen lesen.
»Wo ist Ihr Mann?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht.« Sie hätte gern lauter gesprochen, denn sie merkte, dass Frederic Quentin sich sehr anstrengen musste, sie zu verstehen, aber sie war mittlerweile so entkräftet, dass sie nur noch flüstern konnte. »Ist erÉ ist er denn nicht bei Ihnen? Er sagte, dass erÉ bei Ihnen wohnt.«
»Das ist alles etwas kompliziert«, sagte Frederic. Sie war dankbar, dass er ihren Arm fasste, denn sie war dicht daran, einfach umzufallen.
»Hören Sie, ich glaube, wir sollten nach oben gehen und einen ArztÉ«
»Nein!« Sie schüttelte den Kopf. Fast panisch wiederholte sie: »Nein! Ich will hier weg! Ich will hier weg! Der Arzt hat gesagt, dass ich gehen darf. Bitte helfen Sie mir, dass ichÉ«
»Okay, okay«, sagte er beschwichtigend, »es war nur ein Vorschlag. Wir verlassen jetzt das Krankenhaus, in Ordnung? Haben Sie Gepäck?«
Sie wies zu der Telefonzelle, wo ihre Tasche stand. »Ja. Diese Tasche.«
Er hielt weiterhin ihren Arm fest, als er mit ihr die Halle durchquerte und die Tasche hochnahm.
»Ich fürchte, in einem Café kippen Sie mir um«, sagte er. »Ich denke, wir fahren nach Ferndale. Zu mir nach Hause. Sind Sie einverstanden? Dort können Sie sich auf das Sofa legen, und irgendwo finde ich bestimmt noch ein paar Kreislauftropfen. Sind Sie ganz sicher, dass Sie hier weg dürfen?«
»Ja.«
Sie hatte den Eindruck, dass er ihr nicht recht glaubte, aber wenigstens versuchte er nicht, sie wieder nach oben zu schaffen, sondern steuerte die Tür ins Freie an.
»Mein Mann ist also nicht da?«, vergewisserte sie sich. »Er ist nicht bei Ihnen daheim?«

F
rederics Lippen pressten sich zu einem Strich zusammen. Livia erkannte, dass er wütend war. Sehr wütend. »Nein«, sagte er, »er ist nicht da. Und, offen gestanden, hatte ich gehofft, von Ihnen zu erfahren, wo er sein könnte.«
Eineinhalb Stunden später war Livia nur noch ratlos. Körperlich ging es ihr besser, der schreckliche Schwindel war abgeflaut, der Schweiß auf ihrer Haut getrocknet. Sie saß am Tisch in der Küche von Ferndale House und trank ihre dritte Tasse Kaffee. Frederic hatte ihr ein Brot getoastet, an dem sie mit winzigen Bissen herumkaute. Sie konnte nicht schnell essen, da ihr sonst wieder übel wurde. Sie hatte aber eingesehen, dass sie irgendetwas zu sich nehmen musste.

F
rederic hatte sich nicht gesetzt, er war, seine Kaffeetasse in der Hand, auf und ab gegangen. Er hatte ihr erzählt, wie er vergeblich in London am Bahnhof auf Virginia gewartet hatte und wie er sich schließlich am späten Abend noch auf den Weg nach KingÕs Lynn gemacht hatte. Dass seine Tochter wie vereinbart bei dem Verwalterehepaar abgegeben worden war und dass Virginias Koffer fehlte. Dass ihr Auto fort war, dass er das Haus verriegelt vorgefunden hatte. Dass es keine Spur von Nathan Moor gab, der in den vergangenen Tagen hier gewohnt hatte.
»Ich habe heute in aller Frühe mit meiner Tochter gesprochen«, sagte er, »aber leider hat das nicht viel gebracht. Ihre Mutter hat ihr gesagt, dass sie zu mir nach London fahren wird und dass wir beide am Samstag wiederkommen werden. Sie haben zusammen ein paar Sachen eingepackt und sind dann hinüber zu den Walkers gegangen. Von Nathan Moor hat sich Kim im Wohnzimmer verabschiedet, er schaute sich irgendeine Sportsendung im Fernsehen an. Gegenüber Mrs. Walker hat meine Frau nur erwähnt, dass sie nun packen will. Das Angebot Mr. Walkers, sie zum Bahnhof zu fahren, lehnte sie ab. Es gab aber nicht den kleinsten Hinweis, dass sie nicht vorgehabt haben sollte, tatsächlich nach London aufzubrechen.«
Livia würgte den nächsten kleinen Bissen Brot hinunter. Es kam ihr vor, als sei ihr Magen verschlossen. Jeder kleine Krümel Nahrung musste sich mühsam und langsam seinen Weg bahnen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte sie hilflos, »ich denke dauernd über den letzten Besuch meines Mannes im Krankenhaus nach. Das war vorgestern. Das Schlimme ist, dass es mir so schlecht ging. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt alles wahrgenommen habe, was er sagte. Ich erinnere mich, dass er zum Schluss versprach, am nächsten Tag wiederzukommen. Aber das tat er nicht.«
»Fällt Ihnen sonst noch irgendetwas ein?«, fragte Frederic. Sie konnte spüren, dass er sie am liebsten geschüttelt hätte, um den Fluss ihrer Erinnerungen anzukurbeln, dass er sich nur mühsam beherrschte.
Er hat Angst, dachte sie, er hat richtig Angst um Virginia.
»ErÉ er sagte, dass ich am Freitag entlassen würde, und ich fragte, wohin wir dann gehen sollten. Er meinte, wir könnten für eine Weile hier wohnenÉ bei Ihnen.« Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Es war demütigend. So schwerfällig sich ihr Gehirn bewegte, hatte sie doch längst begriffen, dass Frederic Quentin vom Aufkreuzen der Moors in KingÕs Lynn alles andere als begeistert gewesen war, von der Einquartierung Nathan Moors in seinem Haus noch viel weniger. Dass er die Moors am liebsten schon oben auf Skye losgeworden wäre. Dass er die Gutmütigkeit seiner Frau gegenüber den schiffbrüchigen Habenichtsen verfluchte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.02.2007