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365 Bausünden auf
dem Abreißkalender

Turit Fröbe fotografiert geschmacklose Architektur

Von Dietmar Kemper und
Hans-Werner Büscher (Foto)
Bielefeld (WB). Mit dem von Betondreiecken abgeschirmten Stromkasten am Niederwall in Bielefeld fing alles an. »Das war die Initialzündung, um Bausünden zu suchen«, sagt Turit Fröbe.

Viereinhalb Jahre lang fotografierte die Architekturhistorikerin in 80 deutschen Städten steingewordene Geschmacklosigkeiten. Heraus gekommen ist der erste »Abreißkalender mit abrisswürdigen Gebäuden«. »Weg damit! Der Abreißkalender 2007« heißt der im Hamburger Carlsen-Verlag erschienene Begleiter durch das Jahr. Jeden Tag hat Fröbe mit einer Bausünde illustriert.
Die 36-jährige Frau wurde in Rheda-Wiedenbrück geboren, wuchs in Schloß Holte-Stukenbrock auf und ihr Freund lebte in Bielefeld. Das war Pech für die Stadt am Teuto, denn unweigerlich sah sich die Wissenschaftlerin dort genau um. Das Post-Parkhaus am Kesselbrink nennt sie als typisches Beispiel für öde Architektur, bei der Bielefelder Altstadt, »die gar nicht alt ist«, vermisst sie jeglichen Charme. »Aber Bielefeld ist überall, denn Bausünden zeichnet aus, dass sie ortlos sind«, tröstet Fröbe.
Heute lebt sie in Berlin und unterrichtet an der Universität der Künste Baugeschichte. Sie unterscheidet zwischen schlechten und guten Bausünden. Die schlechten fasst sie unter »Einheitspampe« zusammen. Das sind die zwar zweckmäßigen, aber spröden Supermärkte, Parkhäuser, Spielhallen und Fußgängerzonen, »die aussehen wie gekachelt«. Das meiste sei »austauschbar, nichtssagend, lieblos, öde«. Als gute Bausünden stuft Fröbe die Häuser ein, bei denen sich verschiedene Stile mischen. Auch wenn die nicht immer ein harmonisches Gesamtbild ergeben, attestiert die Wissenschaftlerin den Bauherrn »Gestaltungswillen und den Mut zu Originalität«.
Nur ein einziges Kalenderbild stammt aus dem Ausland. Es zeigt ein Parkhaus im niederländischen Utrecht mit einer Quadriga auf dem Dach, wie man sie vom Brandenburger Tor in Berlin kennt. »Ich konnte es erst gar nicht glauben«, erinnert sich Fröbe an den merkwürdigen Anblick. Gute Noten gibt sie der einst von sozialistischen Plattenbauten verschandelten Goethe-Stadt Weimar: »Hier muss man die Bausünden mit der Lupe suchen.« Der Bayerische Rundfunk hat Turit Fröbe gerade als »Bausündenreporter« für den Weißwurstäquator engagiert. Mit ihrem Tun möchte die 36-Jährige die Bürger ins Grübeln bringen: »Sie sollen über das nachdenken, von dem sie umgeben sind, und sich nicht alles gefallen lassen, was ihnen vor die Nase gesetzt wird.«

Artikel vom 03.02.2007