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Regen ist für mich kein Hinderungsgrund.« Er zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Übergangslos sagte er: »Ich werde jetzt in mein Zimmer gehen und noch etwas arbeiten.«
»Schreiben?«
»Das ist mein Job. Und ich fürchte, ich muss langsam wieder ans Geldverdienen denken.«
»Woran schreiben Sie gerade?«
»Ich beschreibe eine Weltreise.«
»AberÉ«
»Ich glaube, sie wird mit einem Schiffsuntergang beginnen. Manchmal ist der Verlauf von Weltreisen etwasÉ eigenwillig.«
»Aber Sie werden die Reise doch gar nicht fortsetzen können.«
Er starrte an ihr vorbei. »Nicht so, wie ich sie geplant hatte, nein. Es wird eine andere Reise werden - eine ganz andere.«
»Vielleicht lese ich dieses Buch ja irgendwann einmal«, sagte Virginia.
»Vielleicht.«

S
chweigend rauchten sie ihre Zigaretten zu Ende. Der warme Rauch wogte durch die Küche. Sie konnten Kim hören, die aus dem Haus stürmte. Die Bäume jenseits der Fenster schienen die Mauern des Hauses beinahe zu streicheln.
Ich glaube, ich würde gern ein paar Bäume fällen lassen, dachte Virginia. Es müsste schön sein, den Himmel sehen zu können.
Und im nächsten Moment dachte sie: Ich will nicht nach London. Ich will es einfach nicht!
»Ich habe es vor einer halben Stunde im Radio gehört«, sagte Grace, »es ist einfach entsetzlich!«

S
ie stand in ihrer gemütlichen, kleinen Küche mit den geblümten Vorhängen an den Fenstern und dem alten Sofa in der Ecke, auf dem eine dicke Katze lag und schlief. Überall an den Wänden hingen getrocknete Lavendelsträußchen, dazwischen, auf weiß gestrichenen Regalbrettern, präsentierte Grace ihre eindrucksvolle Sammlung von Tassen mit den Konterfeis der königlichen Familie darauf. Der Prince of Wales lächelte gleich neben seiner Mutter, der Queen, und daneben befand sich ein Kinderbild, das Prinz William im Alter von drei Jahren zeigte. Es mussten an die fünfzig Tassen sein. Täglich wurden sie von Grace liebevoll abgestaubt, eine Fleißarbeit, die Virginia immer wieder in stumme Bewunderung versetzte.
Von Jack konnte man nur die Beine sehen. Er lag auf dem Rücken unter der altmodischen Spüle, zur Hälfte verborgen von dem gerüschten Vorhang, der den Spültisch abtrennte. Er schimpfte leise vor sich hin.
»Ich weiß nicht, was du da immer reinschmeißt, Grace«, erklang es etwas dumpf. »Mindestens einmal die Woche liege ich hier und schraube die verdammten Rohre auseinander, nur weil du mal wieder alles verstopft hast!«

I
m Spülbecken stand das schaumige Wasser bis fast zum Rand.
»Die Rohre sind einfach zu alt«, sagte Grace. »Ich traue mich schon fast gar nicht mehr, überhaupt noch zu spülen. Irgendetwas verkeilt sich immer, und schließlich geht gar nichts mehr durch.«

»Grace sagt, ich kann bei ihr bleiben, Mummie«, sagte Kim, die vor dem Sofa kauerte und der Katze beim Schlafen zusah.
»Ist das wirklich in Ordnung, Grace?«, fragte Virginia. »Es wäre nur von Donnerstagmittag bis Samstagabend.«
»Das ist doch gar keine Frage«, sagte Grace, »Sie wissen doch, wie gern Jack und ich die Kleine haben!«
Von Jack kam ein zustimmendes Brummen.
Virginia senkte die Stimme. »Nach dem, was Sie mir gerade erzählt haben, Grace, wäre es mir lieb, wenn Sie Kim nicht aus den Augen ließen. Nicht einmal innerhalb des Parks sollte sie sich zu weit von Ihrem Haus entfernen.«

G
race hatte es vor einer halben Stunde im Radio gehört: Das vermisste Mädchen, Rachel Cunningham, war tot unmittelbar hinter den Parkanlagen von Schloß Sandringham aufgefunden worden. Ermordet. Die Polizei gab noch keine Auskunft darüber, ob sie missbraucht worden war.
»Vermutet man, dass es derselbe Täter war wie bei Sarah Alby?«, fragte Virginia. Noch immer sprach sie mit leiser Stimme. Aber Kim hatte jetzt begonnen, der schnurrenden Katze den Bauch zu kraulen, und war völlig abgelenkt.
»Die sind noch sehr zurückhaltend«, sagte Grace, »aber zwei kleine Mädchen aus KingÕs Lynn innerhalb weniger Tage - das gibt schon zu denken. Wenn Rachel Cunningham auch missbraucht wurde, dann glaube ich schon, dass hier irgendein perverser Verbrecher sein Unwesen treibt!«
»Sarah Alby war vier. Rachel Cunningham acht.«
»Na und? Das sind gerade mal vier Jahre Unterschied! Wenn so ein verkorkster Typ auf kleine Mädchen steht, dann ist es ihm bestimmt egal, ob die ein bisschen jünger oder älter sind!«
Wahrscheinlich hat Grace Recht, dachte Virginia.
Kim war sieben Jahre alt. Sie wusste, dass Grace und Jack sie wie ihren Augapfel hüten würden, aber sie waren beide nicht mehr die Jüngsten, und Kim war ein lebhafter Wirbelwind. Sie war es gewohnt, in dem riesigen Park umherzustreifen, auf Bäume zu klettern, Eichhörnchen zu füttern und in dichten Gebüschen verschwiegene Höhlen für ihre Puppen zu bauen. Der Park war von einer Mauer umgeben, die jedoch absolut nicht geeignet war, jemanden am Darübersteigen zu hindern. Kim braucht nur ein Stück vom Verwalterhaus entfernt einem Menschen begegnen, der es nicht gut mit ihr meinte, und Grace und Jack würden nichts davon mitbekommen.
Ausgerechnet jetzt wollte ihre Mutter nach London.

N
ein, sie wollte nicht. Ihr wurde, im Gegenteil, fast schlecht, wenn sie daran dachte. Sollte sie Frederic anrufen? Ihm von dem zweiten Mordfall erzählen und ihn bitten, auf ihre Anwesenheit zu verzichten? Er würde es nicht verstehen. Weil er, genau wie sie, das Verwalterehepaar kannte. Weil er wusste, dass nicht einmal die eigene Mutter so fürsorglich auf Kim achten konnte, wie es diese beiden Leute tun würden.
Grace schien zu ahnen, was in Virginia vorging, und legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Quentin. Jack und ich würden niemals zulassen, dass unsere Kleine in eine gefährliche Situation gerät. Wir werden sie nicht aus den Augen lassen, da können Sie ganz sicher sein!«

J
ack kroch ächzend unter der Spüle hervor. »Also wirklich, Mrs. Quentin, haben Sie je Grund zur Klage gehabt? Wir wollen doch selber um Gottes willen nicht, dass etwas passiert! Ich sage Ihnen, wenn so ein perverser Typ sich hier im Park blicken lässt, dem jage ich eine Ladung Schrot in den Hintern! Und dann schneide ich ihm dieÉ«
»Nicht, Jack!«, rief Grace hastig. »Das Kind ist doch hier!«

J
ack brummte etwas Unverständliches vor sich hin, angelte nach einem Schraubenschlüssel und kroch wieder in die Dunkelheit hinter dem Vorhang.
Kim streichelte die Katze.
Grace stand rund und zuverlässig zwischen all den lächelnden Gesichtern der Königsfamilie.
Es war ein Bild des Friedens in dieser behaglichen Küche.
Virginia wusste, sie brauchte keine Angst um Kim zu haben. Und sie würde keinen nachvollziehbaren Grund finden, die London-Reise wieder abzusagen.
Am Donnerstag, den 31. August, um 16.15 Uhr würde Frederic sie am KingÕs-Cross-Bahnhof in London abholen.

I
hr war plötzlich so sehr zum Weinen zumute, dass sie sich hastig von den Walkers verabschiedete, Kim an der Hand nahm und fast fluchtartig das kleine Haus verließ. Sie sehnte sich nach ihrer eigenen Küche, der die dichten Bäume jenseits der Fenster alles Licht nahmen und das feindliche Leben weit weg zu verbannen schienen.

Mittwoch, 30. August
1
Liz Alby fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, sich krankschreiben zu lassen. Der Arzt, der ihre Geschichte kannte, hatte ihr keinerlei Schwierigkeiten gemacht.
»Sie brauchen Zeit, dieses furchtbare Geschehen zu verarbeiten«, hatte er gesagt, »und ich denke, es ist in Ordnung, vorläufig nicht zur Arbeit zu gehen. Allerdings sollten Sie auch nicht zu viel daheim herumsitzen und grübeln. Sie brauchen professionellen Beistand.«

E
r hatte ihr eine Liste mit Namen und Adressen von Therapeuten gegeben, die sich zum Teil auf die Betreuung von Verbrechensopfern und deren Angehörigen spezialisiert hatten, zum Teil auch auf die Arbeit mit Eltern, die ihre Kinder verloren hatten. LizÕ Mutter hatte höhnisch gelacht, als Liz sagte, sie werde vielleicht in eine Therapie gehen.
»Zu den Quacksalbern willst du gehen? Die labern nichts als Scheiße, und hinterher wollen sie Õne Menge Geld dafür haben! Echt, Liz, ich hättÕ nicht gedacht, dass du so blöd bist!«
»Aber vielleicht kann man mir auch helfen, Mum. Ich träume immerzu von Sarah. Und ich kann«, ihr waren schon wieder die Tränen gekommen, »ich kann ständig nur denken, warum ich sie nicht auf das Karussell gelassen habe!«
Betsy Alby hatte theatralisch geseufzt. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 13.02.2007