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Sie entschied sich für ein dunkelblaues, das vorn hochgeschlossen war und hinten einen sehr attraktiven, aber keineswegs zu provozierenden Rückenausschnitt hatte. Sie konnte dazu die Saphire tragen, die Frederic ihr zu Kims Geburt geschenkt hatte.
Sehr elegant, dachte sie, und ironisch fügte sie hinzu: Und konservativ genug für den Anlass und die Umgebung!
Es war inzwischen Viertel nach drei. Sie würde nun ins Krankenhaus zu Livia fahren.
Livia Moor war in einem Zimmer mit zwei anderen Frauen untergebracht. Ihr Bett stand direkt am Fenster, und sie lag völlig regungslos, mit abgewandtem Gesicht darin. Die beiden anderen Frauen hatten Obst und Bücher neben sich liegen und unterhielten sich lebhaft, verstummten aber, als Virginia eintrat. Virginia spürte die neugierigen Blicke im Rücken, als sie an Livias Bett trat.
»Livia«, sagte sie leise, »können Sie mich hören? Ich bin es, Virginia!«

S
ie war entsetzt, wie schlecht die junge Frau aussah. Auf Skye hatte sie schon fast wie eine Schlafwandlerin gewirkt, zutiefst geschockt von den Erlebnissen, aber die zarte Bräune ihrer Haut, das windzerzauste Haar hatten sie trotzdem körperlich gesund aussehen lassen. Jetzt waren ihre Wangen eingefallen und hatten eine fahle, beinahe gelbliche Farbe angenommen. Ihre Hände, die auf der weißen Bettdecke lagen, zuckten ständig ganz schwach hin und her. Ihre ungewaschenen Haare waren aus der Stirn gekämmt, und man konnte ein Geflecht zarter, blauer Adern an ihren Schläfen pulsieren sehen. War ihre Nase schon immer so spitz gewesen? Ihre Finger so zerbrechlich? Ihr Hals so sehnig?
Sie öffnete die Augen, als Virginia sie ansprach, aber sie wandte nicht den Blick zu ihr hin. Sie schien aus dem Fenster in den Regen zu starren, aber man hatte nicht den Eindruck, dass sie das Wetter dabei wahrnahm. Oder das aufgeweichte Stück Wiese, das sich jenseits ihres Fensters befand.
»Livia, ich habe Ihnen etwas zu lesen mitgebracht.« Sie zog die Zeitschriften aus der nassen Tüte, aber ihr war klar, dass Livia sie nicht ansehen würde. »Ich dachte mir, Sie langweilen sich hier bestimmt sehrÉ«
Livia rührte sich nicht. Nur ihre Hände zuckten unablässig.
»Die gehört doch in die Psychatrie!«, murmelte eine der Frauen hinter Virginia. »Ich frage mich, was die hier soll!«
Offenbar war Livia nicht gerade beliebt. Ihre Zimmergenossinnen waren stämmig und standen vermutlich kurz vor der Entlassung - so rosig und gesund, wie sie aussahen. Sie hätten sich sicher eine weitere Plaudertasche gewünscht, die Leben in die Bude brachte und neue Themen eröffnete. Stattdessen hatten sie dieses stille Bündel aus Haut und Knochen ins Zimmer bekommen, das kein Wort sprach und dessen Hände ständig vibrierten. Sie schienen von ihr genervt zu sein.
»In erster Linie muss sie aufgepäppelt werden«, erwiderte Virginia. Sie hätte die beiden Weiber gern ignoriert, fand aber, dass man Livia zuliebe um ein wenig Verständnis werben musste. »Um ihre Seele kann man sich später kümmern.«
»Die hat sich noch nicht einmal gemuckst, seitdem sie hier ist«, sagte die andere Frau, »und sie wackelt ständig mit den Händen! Man wird ganz nervös vom Zugucken!«

V
irginia wandte sich wieder zu Livia, strich ihr sanft über die Haare. »Es kommt alles in Ordnung«, sagte sie leise.
Sie hoffte, dass Livia hören und begreifen konnte, was sie sagte.
»Nathan wohnt im Moment bei uns«, erklärte sie. Sie sagte absichtlich uns, damit Livia nicht auf falsche Gedanken kam. Sie brauchte nicht zu wissen, dass Frederic in London war. Obwohl sie derartige Details vielleicht gar nicht interessierten. Sie schien sich in einem Dämmerzustand zu befinden, der sie in einer anderen Welt festhielt.

V
irginia saß noch eine Weile neben ihr und streichelte ein paar Mal über die zuckenden Hände, aber schließlich schloss Livia ihre Augen wieder, und es schien unerheblich, ob jemand an ihrem Bett saß oder nicht.
Als Virginia aufstand, fragte eine der Zimmergenossinnen neugierig: »Stimmt es, dass sie beinahe ertrunken wäre? Oben vor den Hebriden?«
»Ihr Schiff ist mit einem Frachter kollidiert«, bestätigte Virginia.
»Sie hat ja einen unheimlich gut aussehenden Mann«, meinte die andere, »Teufel noch mal, als der gestern hier hereinkam, habe ich mir nur noch gewünscht, zwanzig Jahre jünger zu sein! Der hat einen SexappealÉ Ist ganz schön gefährlich, finde ich. So einen Mann zu haben und dann hier zu liegen und nichts mehr mitzubekommen! Würde mich ziemlich nervös machen!«
Die andere kicherte anzüglich. »Du meinst, der nutzt die Zeit, umÉ«
»Na, so einer wird doch garantiert andauernd angemacht! Mit dem Gesicht und der FigurÉ Den jagen die Frauen doch förmlich!«

B
eide lachten. Virginia murmelte einen kurzen Gruß und verließ rasch das Zimmer. Die Begegnung mit Livia hatte sie erschüttert, das Gerede ihrer beiden gewöhnlichen Zimmergenossinnen sie aufgewühlt. Sie blieb stehen, lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, atmete tief. War Nathan Moor ein Mann, der auf Frauen so intensiv wirkte, dass sie sich in infantil kichernde Geschöpfe verwandelten, so wie die beiden da drinnen eben?
Hat er auf mich auch diese Wirkung?

S
ie hatte natürlich längst realisiert, wie gut er aussah. Das hatte sie schon in Mrs. OÕBrians gemütlicher Küche auf Skye getan. Er war zur Tür hereingekommen, und obwohl er, genau wie seine bleiche, zittrige Frau, nur einen Tag zuvor knapp dem Tod von der Schippe gesprungen war und nichts weiter auf dieser Welt besaß als die Sachen, die er am Leib trug, hatte er eine überwältigende Energie, ein unerschütterliches Selbstbewusstsein ausgestrahlt. Braun gebrannt, die etwas zu langen, dunklen Haare lässig aus dem Gesicht gestrichen, hätte er auch ein entspannter Urlauber sein können, der gerade von einem ausgedehnten Strandlauf kam, und nicht ein Mann, dessen gesamtes Hab und Gut soeben auf den Meeresgrund gesunken war. Ihr fiel das Bild vom frühen Morgen des heutigen Tages ein: Nathan in Frederics T-Shirt, die breiten Schultern, die kaum Platz in dem Hemd fanden.
Ich sollte mich nicht so lange mit ihm zusammen allein in einem Haus aufhalten.
Es war gut, dass Kim heute zurückkehrte. Es war sogar gut, dass sie, Virginia, am Freitag nach London fahren würde, so elend es ihr noch immer bei der Vorstellung wurde. Ob er dann gehen würde? Oder glaubte er, er könne allein in ihrem Haus bleiben, während sie bei ihrem Mann in London war? Wenn sie das zuließ, würde sie ernsthaften Ärger mit Frederic bekommen, und das war auch verständlich. Aber nachdem sie nun gerade Livia gesehen hatte, erschien es ihr tatsächlich nicht einfach für Nathan, mit ihr nach Deutschland zurückzukehren. War sie überhaupt transportfähig? Konnte man ihr schon wieder eine Veränderung ihrer Umgebung zumuten?

S
ie beschloss, noch an diesem Abend mit Nathan darüber zu sprechen. Wenn er Livias wegen weiterhin in KingÕs Lynn bleiben wollte, musste er in ein Hotel gehen. Und wovon sollte er das bezahlen? Notfalls musste sie ihm eben noch einmal etwas leihen. Aber konnte er nicht seinen Verleger um Geld bitten? Als ein erfolgreicher Autor mussten schließlich ständig Zahlungen für ihn eingehen. Oder man würde ihm einen Vorschuss gewähren.
Wo liegt also das Problem?
Mit schnellen Schritten verließ sie das Krankenhaus. Wie immer, wenn sie länger als eine Minute über Nathan Moor nachdachte, wurde sie nervös. Weil sie dann stets auf Ungereimtheiten stieß. Seine ihn in komplette Hilflosigkeit stürzende Notlage - die er dabei keineswegs als wirklich verzweifelt zu empfinden schien, so gelassen und unbekümmert wie er auftrat! - entpuppte sich bei jedem näheren Hinsehen als eine zwar schwierige, jedoch von zahlreichen Lösungsmöglichkeiten begleitete Situation. Das größte Hindernis stellte zweifellos seine hoch traumatisierte Ehefrau dar. Aber war es für Livia wirklich das Beste, in einem englischen Krankenhaus zu liegen? Abgesehen von ihrem Mann - der höchst selten an ihrem Bett weilte - versuchten Ärzte und Schwestern ständig, in einer ihr fremden Sprache in ihre Umnachtung vorzudringen. Livia sprach ein gutes und flüssiges Englisch, aber Virginia war sich sicher, dass in ihrer augenblicklichen Lage größere Erfolge zu erzielen gewesen wären, hätte man sie in ihrer Muttersprache anreden können. Ein weiterer Punkt, den sie bei Nathan vorbringen musste. Wenn sie den Mut zu dem Gespräch denn überhaupt fand.

E
r müsste von allein darauf kommen, dachte sie ärgerlich, als sie in ihr Auto stieg, dessen Scheiben von der hereingetragenen Feuchtigkeit sofort beschlugen, er dürfte mich gar nicht in die Situation bringen, ihn mehr oder weniger hinauskomplimentieren zu müssen. Wenn ich ihm sage, dass ich zu Frederic fahre, müsste er von sich aus sofort sagen, dass auch er spätestens am Freitag mein Haus verlassen wird.
Aus gutem Grund beschlich sie jedoch die Ahnung, dass er das nicht tun würde.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 06.02.2007