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Er hatte mit mehr Vehemenz abgeraten, als sie sie sonst bei ihm kannte.
Ich sollte jetzt hinübergehen und Nathan Moor bitten, endlich zu verschwinden. Und möglichst nie wieder hier aufzutauchen.
Das allein, so viel war klar, hätte ihre Probleme jedoch nicht gelöst. Denn nicht nur Nathan Moor war es, der ihr Schwierigkeiten machte. Ihre Kopfschmerzen, ihr Zusammenbruch waren von Frederic ausgelöst worden. Frederic in seiner Geduld, in seiner Wertschätzung all dessen, was sie tat oder nicht tat, war unverzichtbarer Teil ihres Verdrängungsprogramms gewesen. Dass er plötzlich Forderungen stellte, ärgerlich wurde, ihre Loyalität einforderte, hatte das Gerüst ins Wanken gebracht. Der Zusammenbruch hatte begonnen. Sie würde ihn bereits jetzt nicht mehr aufhalten können.

S
ie war in die Küche zurückgegangen, aber Nathan war nicht mehr dort gewesen. Sie hatte ihn im Wohnzimmer angetroffen, wo er sich gerade einen Sherry einschenkte. Er tat das so selbstverständlich und gelassen, als wohne er seit Jahren in diesem Haus und bewege sich dort ganz unbeschwert. Diesmal empfand Virginia deswegen keinen Ärger. Diesmal vermittelte ihr sein Verhalten sogar ein Gefühl der Sicherheit.
»Geht es Ihnen besser?«, fragte er, und sie nickte, wehrte aber ab, als er ihr ebenfalls einen Sherry anbieten wollte. »Nein, danke. Ich fürchte, das schafft mein Magen noch nicht.«
»Sie wollten mir von Michael erzählen«, sagte er sachlich.
Sie hatte sich auf das Sofa gesetzt und die Beine hochgezogen, sie wie einen Schutzschild vor sich gestellt und mit beiden Armen umklammert. Sie hatte gehofft, er würde sich diesmal nicht neben sie setzen wie vorhin, als er ihren Nacken massiert hatte, und er schien das zu spüren, denn er wählte einen Sessel ihr gegenüber, so dass der breite hölzerne Couchtisch zwischen ihnen stand. Zuerst hatte sie nicht gewusst, wie sie anfangen sollte, und fast hätte sie ihn gebeten, das alles zu vergessen und so zu tun, als habe er den Namen Michael nie gehört. Aber kaum war sie so weit, einen Rückzieher machen zu wollen, meldete sich der Kopfschmerz wieder, leise und bohrend, und ihr Körper verkrampfte sich.

N
athan neigte sich vor und sah sie eindringlich an. »Ich glaube, Sie müssen da etwas loswerden«, sagte er ernst, »oder Sie werden krank. Was immer es mit Michael auf sich hat, es quält Sie, und es beherrscht Ihr Leben. Sie müssen nicht mir davon erzählen, wenn Sie nicht wollen. Aber dann sollten Sie sich einen Therapeuten suchen und mit ihm darüber sprechen. Alleine kommen Sie mit dieser Sache nicht mehr zurecht.«
Irgendwann, zwei oder drei Jahre zuvor, hatte Frederic ihr schon einmal zu einer Therapie geraten; es war eine Phase gewesen, in der ihre Panikattacken an Häufigkeit zugenommen hatten. Das Wort Therapeut hatte sie so sichtlich entsetzt, dass Frederic von seinem Vorschlag sofort wieder abgerückt war und nie wieder davon gesprochen hatte. Auch jetzt hob sie abwehrend beide Hände. »Nein. Ich brauche keinen Therapeuten. Im Grunde ist alles in Ordnung, es ist nurÉ«
»Michael«, unterbrach er mit sanfter Stimme, »es ist nur Michael, nicht wahr? Was ist mit Michael? Wer ist Michael?«

E
r hatte ihr einen Einstieg geboten, den sie annehmen konnte. Er wollte wissen, wer Michael war. Sie konnte mit ihrer Kindheit beginnen, mit ihrer und Michaels Kindheit. Das war harmlos, das barg noch keine Gefahren. Sie hatte zu reden begonnen, stockend zunächst, gequält, aber dann immer fließender und freier. Die einsetzende Dunkelheit half ihr, und auch die Tatsache, dass Nathan der Versuchung widerstand, eine Lampe einzuschalten. Er war da, sie konnte seine Umrisse erkennen, konnte ihn atmen hören, aber sie musste nichts sehen von dem, was sich in seinen Gesichtszügen abspielen mochte. Irgendwann war der Regen sanftes Hintergrundgeräusch ihrer eigenen Stimme. Sie konnte von Dingen sprechen, die sie noch nie zuvor einem anderen Menschen anvertraut hatte: von ihrer wilden, freien Jugend, ihrer Lebensgier, ihrem Leichtsinn, ihrer Rücksichtslosigkeit, ihrer Neugier. Sie konnte von den Männern erzählen, die sie gehabt und wieder abgelegt hatte, von den Irrwegen, die sie gegangen war, von den unguten Dingen, die sie ausprobiert hatte. Nathan unterbrach sie nicht, aber sie konnte spüren, dass er sehr genau zuhörte. Und über allem, was sie sagte, hing das Wort jung.
Ich war jung. Alles war verzeihbar. Ich war so jung.

S
ie brach ab, als Andrew Stewart auftauchte. Denn von da an war sie nicht mehr jung gewesen. Sie wusste selbst nicht, weshalb sie den harten Einschnitt an dieser Stelle vornahm. Vielleicht war es einfach ein Gefühl. Mit Andrew Stewart war sie erwachsen geworden. Nicht weniger wild, nicht weniger leichtfertig. Und doch erwachsen.
»Wie alt waren Sie, als Sie Stewart kennen lernten?«, fragte Nathan. Es war das erste Mal seit Stunden, dass er sein Schweigen brach. Er hatte ihren letzten Worten eine Weile nachgelauscht, dann aber verstanden, dass sie vorerst nichts mehr sagen würde.
»Zweiundzwanzig«, sagte sie, »ich war zweiundzwanzig Jahre alt.«
»Eine zweiundzwanzigjährige Studentin, die schon eine Menge vom Leben ausprobiert hatte. Nicht wahr?«
Sie nickte, obwohl er das nicht sehen konnte.
Er schien es zu ahnen. »Das Mädchen, das Sie beschrieben haben«, sagte er, »dieses Mädchen passt zu der Fotografie. Wie schön Sie waren, Virginia. Und wie unglaublich lebendig!«
»Ja«, sagte sie. »Lebendig. Wenn ich heute an diese Zeit denke, ist es das, was ich am allerstärksten empfinde: Leben. Ich habe so ungeheuer intensiv gelebt.«
»Andrew Stewart war auch Student?«
»Nein. Er war bereits fertiger Rechtsanwalt. Fing gerade an, in einer sehr renommierten Kanzlei in Cambridge zu arbeiten. Sein Vater hatte ihn dort untergebracht. Die Stewarts hatten einflussreiche Bekannte. Wir trafen uns bei der Promotionsfeier einer Freundin von ihm, die wiederum mit irgendeinem Freund von Michael bekannt war. Ich war aber allein dorthin gegangen, weil Michael die Grippe hatte. Wir kamen ins Gespräch undÉ alles änderte sich.«

S
ie hörte, dass Nathan aufstand. Er bewegte sich geschickt und ohne zu stolpern durch das dunkle Zimmer. Er knipste die kleine Lampe an, die am Fenster stand. Das Licht flammte so plötzlich auf, dass Virginia für einen Moment geblendet die Augen schloss, aber es war ein weicher, gedämpfter Schein, den sie nicht als unangenehm empfand.
»Wir müssen ja nicht ohne Licht hier sitzen«, sagte Nathan. Groß und dunkel stand er vor dem Fenster. Ein Fremder. Ein völlig Fremder.
Warum erzähle ich diesem Mann so viel von mir?
Er kam ein paar Schritte näher, setzte sich aber nicht mehr hin.
»Und es war Liebe auf den ersten Blick?«, fragte er.
Sie nickte. »Was mich betrifft - ja.«
»Und für ihn war das anders?«
»Nein. AberÉ«
»Aber?«
Leise sagte sie: »Es änderte sich später.«
»Haben Sie Michael von Andrew erzählt? Sich von ihm getrennt?«
»Nein. Michael erfuhr nichts. Ich trennte mich auch nicht von ihm. Es blieb alles, wie es war zwischen uns. Nur dass ichÉ«
»Nur dass Sie ein Verhältnis nebenher hatten!«
»Ja.«
»Seltsam. Bei einer Liebe auf den ersten Blick? Warum diese Verschwiegenheit? Die Heimlichtuerei? War Andrew Stewart damit einverstanden, dass Sie weiterhin mit Ihrem Freund zusammenlebten?«
Auf einmal fühlte sie sich in die Enge getrieben. »Was wollen Sie hören?«
Er hob abwehrend beide Hände. »Nichts. Nichts, was Sie nicht sagen wollen.«
Sie hatte einen Fehler gemacht, als sie mit ihm zu reden begann. Sie hatte einen Fehler gemacht, als sie sich nach dem Schiffsunglück um die beiden Deutschen kümmerte. Sie machte seit Tagen nur noch Fehler, und damit kam eines zum anderen, und alles schien plötzlich schief zu laufen.
»Ich glaube, ich möchte jetzt schlafen gehen«, sagte sie, »ich bin sehr müde.«
Ohne ihm eine gute Nacht zu wünschen, verließ sie den Raum. Draußen auf der Treppe fasste sie sich erneut an beide Schläfen, hinter denen es leise pochte. Hoffentlich kehrten die Kopfschmerzen nicht zurück. Es reichte, dass allzu viele Bilder und Erinnerungen wiederkamen.
Das alles war so lange verschüttet gewesen. Vielleicht sollte sie nicht weiter daran rühren. Nie hatte sie einem Menschen von jener Zeit erzählt.
Warum ausgerechnet diesem Fremden?


Montag, 28. August
1
A
ls Virginia am nächsten Morgen nach einer Nacht voll unruhigen Schlafs und böser Träume die Treppe hinunterkam, klingelte das Telefon. Es war noch nicht einmal halb acht, und für gewöhnlich rief niemand um diese Zeit an. Für einen Moment schwebte sie in der Versuchung, sich taub zu stellen und das Läuten zu ignorieren.

(wird fortgesetzt)

Artikel vom 29.01.2007