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Das Einzige, was sie in der letzten Zeit in Bewegung gesetzt hatte, war die Unterstützung der deutschen Schiffbrüchigen oben auf Skye, und wie es schien, hatte sie auch damit wieder einen Fehler gemacht. Nathan Moor wurde sie nun nicht mehr los, genau wie Frederic gesagt hatte, und dabei hatte sie ihm noch Kaltherzigkeit vorgeworfen, als er sie warnte. Inzwischen wohnte Moor schon bei ihr im Haus und gondelte in ihrem Auto durch die Gegend. Es war offensichtlich: Wenn sie einmal etwas unternahm, sich einmal aus ihrem Mauseloch hervorwagte, ging es schief.
Irgendwann kamen die Tränen. Sie wusste, dass es fatal war zu weinen, wenn man Kopfschmerzen hatte, aber es gelang ihr nicht, noch länger dagegen anzukämpfen. Der Schmerz ergoss sich in heftigem Schluchzen über die Kissen, auf denen sie lag. Sie hatte sehr lange nicht mehr geweint, es musste Jahre zurückliegen, und sie konnte sich nicht an den Anlass erinnern. Es hatte in ihrem Leben mit Frederic nie einen Grund für Tränen gegeben. Alles war so überschaubar und friedlich, ein Tag glich dem anderen, frei von Ängsten und Sorgen. Sie hatten nie Streit, und Frederic übte nie Druck auf sie aus. Bis jetzt. Auf einmal kam er mit Forderungen. Verletzte sie, als er ihren Widerstand spürte. Verursachte ihr Kopfschmerzen und Schuldgefühle. Und das alles nur wenige Stunden nachdem Nathan Moor sie mit seinen Fragen attackiert und buchstäblich aus dem Haus getrieben hatte. Wenige Stunden nachdem sie auf irgendeiner gottverlassenen Straße in einem der sozial schwachen Viertel von KingÕs Lynn gestanden und Zigaretten geraucht hatte.
Was, um alles in der Welt, geschah plötzlich mit ihr?

S
ie wusste nicht, wie lange sie so gelegen und geweint hatte, aber plötzlich vernahm sie draußen den Motor ihres heimkehrenden Wagens. Nathan Moor kam zurück. Sie setzte sich rasch auf, unterdrückte dabei einen Schmerzenslaut: In ihrem Kopf schienen überall lange Nadeln zu stecken, die sich in ihr Gehirn bohrten. Mit den Händen versuchte sie, ihre Haare ein wenig zu ordnen, aber es war klar, dass sie nicht würde verbergen können, wie schlecht es ihr ging. Sie musste fürchterlich aussehen.

E
r kam durch die Küche herein - es war typisch für ihn, nun nicht mehr höflich an der Haustür anzuklopfen, sondern sich zu benehmen, als gehörte er bereits hierher - und stand gleich darauf im Wohnzimmer. Er sah gut aus, fröhlich und entspannt.
Entweder, dachte Virginia, es geht Livia besser, oder es ist ihm egal, wie es ihr geht. Oder er war gar nicht bei ihr.
»Sie sitzen hier drinnen?«, fragte er erstaunt. »Draußen ist ein herrlicher Abend, undÉ« Er sprach nicht weiter. Im Dämmerlicht des Zimmers hatte er ihr Gesicht nicht gleich deutlich gesehen, aber nun begriff er, dass irgendetwas nicht in Ordnung war.
»Virginia!« Überrascht merkte sie, dass er erschrocken klang. So, als sei er tatsächlich fähig, sich Gedanken um sie zu machen. »Was ist denn los? Es geht Ihnen nicht gut, oder?« Er betrachtete sie schärfer. »Sie haben geweint«, stellte er fest.
Sie wischte sich über die Augen, als könne sie jetzt noch etwas verbergen. »Ich habe schreckliche Kopfschmerzen«, sagte sie.
»Migräne?«
»So ähnlich. Das passiert mir manchmal. Und ich«, sie versuchte ein Lächeln, von dem sie spürte, dass es jämmerlich ausfiel, »ich war wieder einmal zu blöd, meine Tablette rechtzeitig zu nehmen. Da geht es oft um Sekunden.«
Er musterte sie besorgt. »Bei welchen Gelegenheiten bekommen Sie diese Schmerzen?«
»Meistens bei Wetterwechsel. Ab morgen soll es ja kühl werden. Vielleicht liegt es daran.«
»Vielleicht.« Er wirkte nicht sehr überzeugt. Und lieferte ihr gleich wieder eine Kostprobe seiner eigenartigen Hellsichtigkeit, indem er fragte: »Haben Sie Ihren Mann zurückgerufen?«
»Meine Kopfschmerzen haben nichts mit meinem Mann zu tun.«
»Sind die Schmerzen aus dem Nacken gekommen?«
»Ja.«
»Darf ich?« Ohne ihre Antwort abzuwarten, trat er hinter das Sofa, beugte sich über sie und begann ihren Nacken und ihre Schultern zu massieren. Seine Hände fühlten sich kräftig an, die Haut rau, aber seine Bewegungen waren sanft und geübt. Er schien die Punkte genau zu kennen, die er berühren musste, und er wusste, auf welche Weise dies zu geschehen hatte. Manchmal tat es weh, aber es war nie unerträglich. Und in Virginias angespanntem Rücken, in ihrem völlig verkrampften Hals schien sich tatsächlich etwas zu lösen.
»Haben Sie das gelernt?«, fragte sie.
»Nein. Ich folge nur meinem Instinkt. Wird der Schmerz besser?«
Sie war tief erstaunt. »Ja. Er wird tatsächlich besser.«
Er machte weiter. »Ihre Muskeln fühlen sich schon viel weicher an. Was hat Sie so angespannt, Virginia? Was hat Sie derartig verkrampft?«
»Der bevorstehende Wetterwechsel.«
Sie hörte ihn leise lachen. »Der kommt jetzt aber auch wirklich sehr gelegen«, meinte er.
Er presste eine Stelle an ihrem Hals, und diesmal tat es richtig weh.
»Au«, jammerte sie.
»Das war der härteste Knoten«, sagte er, »der Punkt, dessentwegen Sie geweint haben.« Er strich nun sehr sanft und vorsichtig über dieselbe Stelle, und Virginia merkte, wie seltsame, leise Schauer über ihre Kopfhaut liefen, sich am Hals sammelten und über das Rückgrat hinunterrannen. Etwas löste sich. Mehr als nur die Verkrampfung der Muskeln wie zuvor. Irgendetwas anderesÉ in ihrÉ Zu ihrem Entsetzen und ohne dass sie die geringste Chance gehabt hätte, es zu verhindern, stiegen ihr schon wieder die Tränen in die Augen.
Nicht, dachte sie panisch, nicht jetzt!

A
ber es war zu spät und unaufhaltsam. Die Tränen strömten hervor, noch heftiger als zuvor, sie überschwemmten sie geradezu, als sei irgendwo ein Damm gebrochen und entließe eine Flut, die niemand mehr würde kontrollieren können. Sie krümmte sich auf dem Sofa zusammen, geschüttelt von ihrem Weinen, aber sie merkte, dass Nathan Moor neben sie glitt und sie plötzlich in den Armen hielt.
»Alles in Ordnung«, sagte er beruhigend, »alles ist gut. Weinen Sie, Virginia. Weinen Sie, solange Sie mögen. Es ist wichtig, dass wir weinen können. Vor dem heutigen Tag haben Sie lange nicht geweint, nicht wahr? Viel zu lange.« Er strich ihr sanft über die Haare. Es ging in diesem Moment eine große Kraft und zugleich Zartheit von ihm aus.
»Es tut mir so leid«, stieß Virginia hervor.
»Aber nicht doch. Was denn? Was tut Ihnen leid, Virginia?«

S
ie hob den Kopf, starrte ihn aus verweinten Augen an. »Michael«, sagte sie, und im nächsten Moment dachte sie voller Schrecken: Wieso habe ich das gesagt? Wieso habe ich Michaels Namen genannt?
Er hörte nicht auf, ihre Haare zu streicheln. »Wer ist Michael, Virginia?«
Sie wand sich aus seinen Armen, sprang auf die Füße. Sie rannte in die Küche hinüber und erreichte im letzten Moment das Spülbecken.
Er war ihr nachgekommen. Er hielt ihren Kopf und strich wieder und wieder ihre Haare zurück, damit sie nicht schmutzig würden, während sie sich erbrach, als könne sie nie wieder damit aufhören.
Als der Brechreiz endlich versiegte und sie sich aufrichtete, mit zitternden Beinen und so schwach, dass sie kaum wusste, wie sie es von der Spüle bis zu einem der Stühle um den Küchentisch schaffen sollte, wusste sie, dass sie ihm von Michael erzählen würde.

4Michael
A
ls sie sieben gewesen waren, hatten sie sich geschworen, einander zu heiraten. Etwas anderes wäre gar nicht in Frage gekommen, denn sie liebten einander so sehr, dass es unvorstellbar schien, je einen anderen zu lieben.

M
it zwölf Jahren erneuerten sie ihren Schwur, ernster und feierlicher als zuvor, denn inzwischen hatte man ihnen erklärt, dass Cousin und Cousine einander nicht heiraten sollten, und nun witterten sie, dass man ihnen Steine in den Weg legen würde, was die ganze Angelegenheit noch viel romantischer und abenteuerlicher machte. Die sogenannte gute Gesellschaft würde sie nie akzeptieren, und vielleicht würden sie auch von ihren Familien verstoßen werden, und Menschen, die sie heute grüßten, würden die Straßenseite wechseln, wenn sie ihnen begegneten. Sie konnten damit Stunden verbringen, sich ihr Leben als Ausgestoßene auszumalen, in den schaurigsten und schrecklichsten Farben, und manchmal lief ihnen dabei ein wohliges Kribbeln nach dem anderen über den Körper. Denn das Schöne bei all dem war ja die sichere Gewissheit, dass sie trotz allem niemals allein sein würden. Sie hatten einander, für immer und ewig. Sie waren eine Insel inmitten eines feindlichen Meeres.
Was konnte ihnen geschehen?

S
ie waren im selben Jahr, im Abstand von wenigen Monaten, geboren worden. Virginia Delaney kam am dritten Februar zur Welt, Michael Clark am achten Juli.



(wird fortgesetzt)

Artikel vom 25.01.2007