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Denn so viel stand fest: Ewig wollte sie nicht in dem düsteren Loch bei ihrer Mutter sitzen, wo selbst an strahlenden Sommertagen schon frühmorgens alle Rolläden heruntergelassen waren, damit man das Fernsehbild besser erkennen konnte und keine Hitze hereindrang, die Betsy, die ständig schwitzte, fürchtete wie der Teufel das Weihwasser. Liz wollte eine hübsche Wohnung, und am meisten wünschte sie sich einen kleinen Balkon davor, auf dem sie Blumen pflanzen konnte. Sie hoffte auf einen netten Mann, der ihr manchmal Kleinigkeiten mitbrachte, hübsche Wäsche oder ein Parfüm, und der sich als Sarahs Vater fühlen würde. Er sollte genügend Geld verdienen, so dass sie nicht mehr im Drogeriemarkt für einen kläglichen Lohn an der Kasse würde sitzen müssen. An den Wochenenden konnten sie zu dritt Ausflüge unternehmen, Picknicks und Fahrradtouren machen. Wie oft sah sie fröhliche Familien, die zu einer gemeinsamen Unternehmung aufbrachen! Während sie selbst immer nur einsam mit dem quengelnden kleinen Ding herumzog, stets auf der Flucht vor dem plärrenden Fernseher zu Hause und vor dem Anblick ihrer knapp vierzigjährigen Mutter, die bereits wie sechzig aussah und für sie das schrecklichste Beispiel eines verpfuschten Lebens darstellte.
Dieser Augusttag versprach schon am frühen Morgen, besonders herrlich zu werden. Der Kindergarten, in den Sarah bislang gegangen war, machte Ferien, und zwangsläufig hatte auch Liz Urlaub nehmen müssen. Sie nahm sich vor, diesen Tag am Strand von Hunstanton zu verbringen, sich zu sonnen, zu baden und ein wenig ihre ausgesprochen hübsche Figur zur Schau zu stellen, in der Hoffnung, jemand wäre so fasziniert davon, dass er das viereinhalbjährige, missmutige Geschöpf an ihrer Seite nicht mehr als echten Hinderungsgrund für eine Beziehung betrachtete. Zwar unternahm sie einen schwachen Versuch, doch einmal an die Hilfsbereitschaft ihrer Mutter zu appellieren und Sarah für diesen Tag bei ihr zu lassen, aber Betsy Alby sagte emotionslos, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden und den automatischen Griff in die Chipstüte zu unterbrechen: »Nein.«

L
iz und Sarah fuhren mit dem Bus. Er schaukelte durch jedes Dorf in der Umgebung von KingÕs Lynn, und es dauerte eine gute Stunde, bis sie in Hunstanton ankamen, aber Liz war so erwartungsvoll und gut gelaunt, dass ihr das nichts ausmachte. Mit jeder Meile, die sie zurücklegten, meinte sie, das Meer stärker riechen zu können, obwohl das sicher Einbildung war, denn es roch um sie herum nur nach dem Diesel, mit dem der Bus betrieben wurde. Aber sie liebte das Meer so sehr, dass ihre Nase es wahrnahm, selbst wenn das eigentlich noch nicht möglich war. Und als es dann plötzlich vor ihren Augen auftauchte, so weit und glitzernd in der Sonne, fühlte sie eine jähe, tiefe Freude, und für einen Moment waren ihr nur ihre Jugend bewusst und die Tatsache, dass das Leben vor ihr lag, und sie vergaß die quengelnde Last an ihrer Seite.
Sarah brachte sich jedoch recht rasch in Erinnerung. Der Bus fuhr auf den großen Parkplatz von New Hunstanton, dem Strandbad mit all seinen Imbissbuden, Andenkenläden, Karussells und Eisverkäufern, und schon begann Sarah beim Anblick der hölzernen Pferdchen zu kreischen, auf denen man sich für den Preis von einem Pfund ein paar Runden lang im Kreis drehen konnte.

N
ein«, sagte Liz, die keine Lust hatte, ihr spärliches Geld für derartigen Blödsinn zum Fenster hinauszuwerfen, »vergiss es! Wenn ich dir eine Runde erlaube, willst du noch eine und dann noch eine, und am Ende heulst du trotzdem. Wir suchen uns jetzt einen schönen Platz, bevor es zu voll wird.«

E
s war Ferienzeit, nicht nur in England, sondern praktisch überall in Europa, und schon strömten sowohl Einheimische als auch Touristen in Scharen zum Strand. Liz wollte möglichst rasch all ihre Utensilien weiträumig ausbreiten und sich nicht plötzlich auf engstem Raum, zwischen zwei Großfamilien eingequetscht, wiederfinden. Doch Sarah stemmte beide Füße in den Sand. »MamaÉ ich willÉ Karussell«, heulte sie.

L
iz trug in der einen Hand ihre Badetasche, den Korb mit einer Mineralwasserflasche und ein paar belegten Broten darin und die kleine Schaufel, mit der Sarah buddeln und graben sollte, und mit der anderen versuchte sie, ihre sich heftig sträubende Tochter vorwärtszuziehen.
»Komm, wir bauen eine tolle Burg!«, versuchte sie sie zu locken.
»Karussell!«, schrie Sarah.
Liz hätte ihr gern eine kräftige Ohrfeige gegeben, aber es waren zu viele Menschen um sie, und heutzutage durfte sich eine nervenzerrüttete Mutter gegen ihr Kind ja nicht mehr zur Wehr setzen. »Nachher vielleicht«, sagte sie. »Komm, Sarah, sei lieb!«
Sarah dachte nicht daran, lieb zu sein. Sie schrie und tobte und ließ sich nur millimeterweise und unter heftigster Gegenwehr vorwärtsziehen. Liz war im Nu schweißgebadet, ihre gute Laune war verflogen. Dieser verfluchte Mike hatte ihr Leben tatsächlich zerstört. Klar, dass sie keinen Kerl mehr fand. Wer sie so erlebte wie jetzt, machte natürlich einen riesengroßen Bogen um sie, und das konnte sie niemandem verdenken. Die Badetasche rutschte ihr aus der Hand, ein freundlicher Herr hob sie ihr auf, und sie hatte dabei den Eindruck, dass er sie mitleidig ansah. Als Nächstes fiel die Sandschaufel zu Boden, und diesmal war es eine ältere Dame, die sie ihr reichte. Wieder einmal stellte sie fest, dass andere Leute viel nettere Kinder hatten; jedenfalls konnte sie nirgendwo eine Mutter entdecken, die so kämpfen musste wie sie. Ihr fiel ein, wie sie damals über Abtreibung nachgedacht hatte. Sie war nicht religiös, hatte aber dennoch eine undefinierbare Furcht vor einer Art Rache des Schicksals gehabt, wenn sie das Kind in ihrem Bauch töten würde. Heute, während sie sich, das schreiende kleine Ungeheuer mit sich zerrend, schwitzend den Strand entlangquälte, dachte sie plötzlich inbrünstig: Hätte ich es doch getan! Hätte ich doch bloß den Mut gehabt! Ganz gleich, was an Bösem auf mich zurückgefallen wäre, es hätte nicht schlimmer sein können als das hier!

I
rgendwann hatten sie eine Stelle erreicht, die Liz geeignet erschien, den Tag dort zu verbringen. Sie breitete ihr Handtuch und das von Sarah aus und machte sich daran, eine Sandburg zu bauen - damit Sarah endlich Ruhe gäbe. Tatsächlich hörte die Kleine auf zu schreien und beteiligte sich eifrig beim Bauen. Liz atmete auf. Vielleicht vergaß Sarah ja die hölzernen Pferde. Vielleicht wurde es doch noch ein harmonischer Tag.
Sie zog ihren neuen Bikini an und wusste, dass sie großartig aussah. Er war im Preis herabgesetzt gewesen, dennoch eigentlich zu teuer für ihr schmales Gehalt, aber sie hatte nicht widerstehen können. Ihre Mutter durfte ihn natürlich nie entdecken, sonst würde sie losschreien, Liz könnte von nun an einen höheren Betrag zu Hause beisteuern, wenn sie offenbar in der Lage war, ihr Geld für Luxusartikel zu verschwenden. Als ob sie ewig in dem schäbigen Einteiler, der mittlerweile vier Jahre alt war, herumlaufen könnte! Wenn sie einen Mann finden wollte, der sie aus all dem Elend herausholte, musste sie zuvor etwas investieren. Aber derlei Dinge mit Mum besprechen zu wollen, war völlig sinnlos.
Sarah baute noch immer mit Hingabe an ihrer Burg. Liz streckte sich auf ihrem Handtuch aus und schloss die Augen.

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ie hatte wohl eine ganze Weile geschlafen, denn als sie sich aufsetzte und um sich blickte, merkte sie, dass die Sonne schon sehr hoch stand und es auf Mittag zugehen musste. Der Strand war noch viel bevölkerter als am Morgen; ringsum wimmelte es von Menschen. Viele lagen einfach nur in der Sonne, andere spielten Federball oder Boccia oder liefen gerade zum Wasser. Kinder schrien und lachten, das Meer plätscherte leise. In der Ferne konnte man das undeutliche Brummen eines Flugzeuges hören. Es war ein vollkommener Tag.
LizÕ Gesicht brannte; sie hatte zu lange in der Sonne gebraten und sich zuvor nicht einmal mit einem Schutzmittel eingerieben. Zum Glück vertrug ihre Haut eine Menge. Sie wandte sich um und sah, dass Sarah ebenfalls eingeschlafen war. Offenbar hatten ihr Geschrei und das Bauen der Burg sie ermüdet, denn sie lag zusammengerollt auf ihrem Badetuch, atmete tief und gleichmäßig, und der Mund stand ein wenig offen.
Gott sei Dank, dachte Liz. Schlafend fand sie ihre Tochter stets am liebenswertesten.

S
ie merkte, dass sie Hunger bekommen hatte und dass sie keine Lust auf ihre eigenen Brote mit der faden Margarine und dem Käse, der immer nach Seife schmeckte, verspürte. Gleich bei der Bushaltestelle gab es einen Imbissstand, an dem man besonders köstliche Baguettebrötchen, die dick mit Tomaten und Mozzarella belegt waren, kaufen konnte. Liz liebte diese Brötchen und Sarah ebenfalls. Dazu eine schöne eiskalte Cola anstelle des warmen Mineralwassers in ihrem KorbÉ Liz stand auf und kramte ihren Geldbeutel hervor. Kurz betrachtete sie ihr schlafendes Kind. Wenn sie Sarah jetzt aufweckte und mitnahm, würde diese wieder das Karussell mit den Pferden entdecken und nur unter Tränen und Geschrei zur Rückkehr an den Strandplatz zu nötigen sein. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.01.2007