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Predigt an den Rocky Mountains

Ingrid Cramer-Dörschels erstes Weihnachtsfest im kanadischen Edmonton

Von Stephan Rechlin
Gütersloh/Edmonton (WB). Vier Gottesdienste stehen am Heiligen Abend auf dem Dienstplan. Zwei übernimmt Pastorin Ingrid Cramer-Doerschel (48), zwei der Kollege Markus Wilhelm. Doerschel wird den Afghanistan-Einsatz zum Anlass nehmen, um über Frieden zu sprechen. Das passt zu Kanada.

Seit März lebt und predigt die ehemalige Pastorin der Gütersloher Matthäus-Gemeinde in Edmonton, der gut eine Million Menschen zählenden Hauptstadt der kanadischen Provinz Alberta nahe der Rocky Mountains. Mit Hilfe der evangelisch-lutherischen Trinitatis-Gemeinde fand sie schnell eine Mietwohnung in der Stadt, von der aus sie ihren Arbeitsplatz zu Fuß erreichen kann. Als sich ihr Mann Kosmas Dörschel (47) nach einem Job umsah, bekam er zwei Angebote am ersten Tag. Einen nahm der gelernte Schreiner sofort an. »Jobs sind hier kein Problem. Die Ölindustrie im Norden braucht ständig Leute und in der Stadt sind gute Handwerker sehr gefragt«, sagt Cramer-Doerschel.
Der hiesige Arbeitsmarkt habe viele Deutsche nach Edmonton gelockt, vor allem aus dem Osten des Landes. So auskömmlich der Verdienst auch sei, so schmerzhaft sei die Trennung von daheim, vor allem zu Weihnachten: »Viele können sich den Kurzbesuch in Deutschland nicht mal eben so leisten.« Ihnen steht Cramer-Doerschel in den kommenden Tagen bei - wenn sie es wünschen. Die Kirche gibt ihr die Zeit dafür. In Gütersloh ist ein Pastor für 2400 Gemeindemitglieder zuständig - in Edmonton kommen zwei auf 1300. Dabei bekommt die Kirche dort keinen Cent Steuer oder staatliche Zuwendung.
Unter den Einwanderern und ihren Nachkommen genießt die Kirche einen hohen Stellenwert. Da sind zum einen die Einwanderer, die im 19. Jahrhundert aus Polen und der Ukraine kamen und zum anderen jene, die nach dem zweiten Weltkrieg nach Edmonton auswanderten, als hier das Öl gefunden wurde. Jeder von ihnen feiere Weihnachten auf seine Weise: »Einen rein kanadischen Weihnachtsbrauch gibt es nicht. Hier mischen sich die verschiedenen Bräuche«, erzählt die Pastorin. Da werde der Weihnachtsbaum aufgestellt und Heringssalat aufgetischt - doch die Geschenke gebe es erst am ersten Weihnachtstag, wie in England. Die asiatischen, muslimischen und jüdischen Gemeinden in Edmonton würden wiederum nach ganz anderen Überlieferungen feiern: »Ich lerne hier jeden Tag etwas Neues hinzu.«
Und sie selbst? Das erste Weihnachtsfest jenseits des MatthäuswegesÉ Sie vermisse ihre Freunde, den Weihnachtsmarkt, die Glühwein-Atmosphäre. »Ich bin in Edmonton zu Hause. Meine Heimat ist es noch nicht geworden.«

Artikel vom 23.12.2006