30.12.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Nationalmannschaft glänzt bei der WM und will nun den EM-Titel

Für Wehmut bleibt keine Zeit

Für alle, die dabei sein durften - in den Stadien, auf den Straßen, in den Städten, in ihren Sesseln - haben sich die Bilder wohl für immer eingegraben. Bilder eines einzigartigen Fußball-Sommers. Über dem Weltmeisterschaft stand, und der doch so viel mehr gewesen ist als das.


Auch auf dem Platz. Dort bot die deutsche Nationalmannschaft kaum für möglich gehaltene Spitzenleistungen. Und eigentlich nur einer fand keinen Gefallen daran, das Fußball-Glück der Gastgeber zu teilen. Schlimmer noch. Er ignorierte es einfach.
Fabio Grosso.
Italiener, der Mann.
Seine Visitenkarte zeigte er dem ganzen Land in der 119. Minute des Halbfinals. Torschütze stand da drauf. Und noch heute löst der Schuss des Linksverteidigers mitten ins deutsche Fußball-Herz Verdruss aus. Aus der Abteilung »Hätte, wenn und aber« wurde schon am Abend des Geschehens zügig gemeldet, dass die nervenfesten Hausherren ein mögliches Elfmeterschießen wie schon im Viertelfinale gegen Argentinien wieder gewonnen hätten. Dazu kam es nicht, am Ende setzte Alessandro Del Piero den Gnadenstoß der Tifosi an.
Aber große Gewinner kann es auch in einem kleinen Finale geben. Mit noch nicht getrockneten Tränen in den Augen stürmte Deutschland zum 3:1 gegen den anderen Halbfinal-Verlierer Portugal. Tausende lagerten anschließend vor dem Mannschaftsquartier in der Stuttgarter Innenstadt, zuvor im Gottlieb Daimler Stadion hatten sie auch dem uneinsichtigen Sportskameraden Grosso gesanglich eine wichtige Mitteilung zu machen: »Stuttgart ist viel schöner als Berlin.«
Dorthin reiste der von den Strapazen gezeichnete WM-Dritte mit dunklen Sonnenbrillen noch einmal zurück, um mit den Fans am Endspiel-Mittag eine Abschlusspartie am Brandenburger Tor zu feiern. Fünf Wochen hatte der Tross in der Hauptstadt verbracht, nur die Hauptdarsteller im Epizentrum der Weltmeisterschaft waren zum Schluss andere. Italien und Frankreich boten über zwei Stunden - soll man sagen: Hausmannskost? Noch einmal kam Trübsinn auf im Olympiastadion, als Italiens Kapitän Fabio Cannavaro den Weltpokal übernahm. Er hätte auch in den Händen von Michael Ballack gut ausgesehen.
Doch für Wehmut bleibt keine Zeit. Der Ball rollt immer weiter. Es dauerte drei Tage, dann verkündete Jürgen Klinsmann seinen Abschied als Bundestrainer. Assistent Joachim Löw rückte auf den Chefsessel. Eine folgerichtige Wahl. Er war nicht nur direkt an der Aufbruchstimmung beteiligt, sondern ein Gehilfe mit Befugnis. Wenn »der Jürgen« den Projektleiter und Vordenker machte, dann überblickte der »Jogi« recht eigenständig das bedeutende Ressort Taktik und Training. Löws Löw heißt nun Flick. Hans-Dieter mit Vornamen. Und als »Hansi Flick« ein bekannter Bundesliga-Spieler mit dem FC Bayern als Gütesiegel seiner Karriere.
Der Einstieg von Löw/Flick setzte da an, wo Klinsmann/Löw aufhörten: Mit schwungvollem Ballspiel, immer hübsch nach vorn. Das WM-Können wurde konserviert, die ersten Punkte in der EM-Qualifikation sind sicher unter Dach und Fach. Gegen das arme San Marino gönnten sich die gefrässigen »Löwen« sogar einen 13 Gänge umfassenden Torschmaus.
Erst der letzte Einsatz des Jahres verlief dann mal wieder nicht so prickelnd. Das 1:1 gegen Zypern zeigte ermattete Spieler, die in Nikosia am Ende von 2006 den leeren Energiespeicher auch nicht mehr mit einem Rückgriff auf die weltmeisterliche Über-Euphorie ausgleichen konnten. Nichts ging mehr, es ist trotzdem eine tolle Zeit gewesen.
Was davon besonders bewegte, konzentriert sich natürlich auf die WM. Lahms Traumtor zum Auftakt gegen Costa Rica. Oder die Erlösung von Dortmund, als Odonkor Neuville anflankte. Letzte Minute, 1:0 gegen Polen, Gänsehaut. Herausragend die erste Halbzeit beim Achtelfinale gegen Schweden. Und die Geste, der Krimi, der Jubel: Kahn bückt sich zu Lehmann herunter vor dem Elfmeterschießen im Viertelfinale gegen Argentinien. Die Torwartrivalen finden für einen Augenblick friedlich zusammen. Lehmann hechtet sich in die Heldenrolle, während die Schützen kalt wie Hundeschnauze einen Elfer nach dem anderen versenken.
Die Tumulte anschließend kosten den Bremer Torsten Frings das Halbfinale, das nach fast zwei Stunden auch wieder auf zehn Schüsse zusteuert. Deutschland 0, Italien 0. Eine Minute noch. Tief steht die DFB-Elf, Pirlos Pass auf Grosso rutscht ihr durch, ein Abwehrspieler von US Palermo beendet den Traum von der Trophäe. Unbarmherzig fliegt die Kugel ins Netz. Deutschland - schwer getroffen.
Was nun noch zu tun bleibt, mögen Fußballer nicht. Das Spiel um Platz drei, dessen Fähigkeiten als Trostpflaster für äußerst begrenzt gehalten werden. Dieses Mal ist alles anders. Stuttgart wächst am 8. Juli 2006 über sich hinaus. Es geht nicht mehr um alles, aber Stuttgart gibt alles. Die Fans flippen aus. Im Stadion erlischt das Licht, dafür glüht der Himmel. Der letzte Knall: So ist der WM-Dritte irgendwie doch Weltmeister, jedenfalls jetzt, in diesem Moment.
Doch nach dem furiosen Feuerwerk und auch mit etwas Abstand betrachtet, fällt das Fazit weniger rührselig aus. Das Urteil von Klinsmann lautete schon nach dem Halbfinal-Aus: Ziel verfehlt. Eine übertriebene Feststellung? Nicht für ihn. Er war zwei Jahre zuvor angetreten, um Deutschlands Nationalelf-Fußball komplett umzukrempeln und den vierten Weltmeisterschafts-Triumph zu erringen. Nicht einmal durch den Viererpack beim tolpatschigen Testlauf im März gegen Italien, als die Anti-Klinsi-Brigade schon schärfste Munition in den Schaft schob, ließ er sich vom Weg abbringen.
Auch der vom Bundestrainer-Vertrauten zu dessen Nachfolger beförderte Löw legt die Latte hoch. Von »Goldener Generation« hat er gesprochen und klar gemacht, dass er die Europameisterschaft gewinnen will.
Das Endspiel steigt am 29. Juni 2008 im Wiener Ernst Happel-Stadion. Bis dahin ist die Weltmeisterschaft 2006 nur noch eine schöne Geschichte.

Ein Beitrag von
Friedrich-Wilhelm Kröger

Artikel vom 30.12.2006