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Anna atmete auf, als sie den Wagen endlich von hinten sah, die Angst hatte sie wieder überfallen, als sie die Männerstimme gehört hatte.
Anna hatte keinen Blick, für die landschaftliche Schönheit Niederbachs. Die Häuser des Örtchens drängten sich dicht um eine imposante Sandsteinkirche. Im Westen erstreckte sich ein dicht bewaldeter Gebirgszug und im Osten sah man einen kleineren Berg, auf dem in früheren Zeiten wohl einmal eine Burg gestanden hatte. Jetzt konnte man nur noch die Ruinen sehen. An seinem Fuß schlängelte sich ein Fluss durch dieses idyllische Tal. Auch durch die Ortsmitte plätscherte ein Bach, in dem die Dorfjugend mit Begeisterung spielte und Kaulquappen fing. Dies alles sah Anna nicht, sie war in einer inneren Welt der Trauer und Verzweiflung gefangen. Automatisch wich sie wieder jedem Mann aus, der ihr auf der Dorfstraße entgegen kam. In dem einzigen Lebensmittelgeschäft des Ortes fragte sie nach dem Haus des Bürgermeisters und Frau Hemke, der das Geschäft gehörte, beschrieb ihr freundlich den Weg zu dessen Haus. Doch Bürgermeister Friedrich, der das Amt nur nebenbei inne hatte und hauptberuflich Landwirt war, traf sie nicht an.

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ber seine Ehefrau wusste in allen Dingen des Zuzugs von Flüchtlingen und Heimatvertriebenen gut Bescheid. Sie erledigte sowieso alle schriftlichen Arbeiten für ihren Mann. Für Anna war es gut, dass sie mit einer Frau sprechen musste und nicht mit einem Mann. Sie war nicht sicher, ob sie das überhaupt gekonnt hätte. Sie übergab ihr den Wohnberechtigungsschein, auf dem ihr ein Raum von mindestens 10 qm, mit Fenster und Heizofen, sowie Benutzungsrecht für eine Kochstelle, Wasserzapfstelle, Wäschetrockenplatz und Abort zugesichert wurde. Außerdem musste der Raum mit dem notwendigsten Mobiliar ausgestattet werden, als da wären: Bett, Stuhl, Tisch, Schrank und eine Lampe. Zudem hatte sie Anrecht auf zwei Töpfe, eine Pfanne, zwei Schüsseln, Besteck, Geschirr für eine Person, eine Zinkwanne, einen Eimer, einen Besen, einen Handfeger mit Schaufel, vier Handtücher, zweimal Bettwäsche und vier Geschirrtücher. Dann natürlich noch Bezugsscheine für Holz und Kohle und Lebensmittelkarten. Die Frau des Bürgermeisters kannte das alles schon, sie bat Anna, doch eine halbe Stunde zu warten, weil sie gerade das Essen auf dem Herd hätte. Sie könne gleich etwas mitessen und gemeinsam würden sie dann das neue „Zuhause“ von Anna besichtigen. Mehr als ein Bett und einen Stuhl könne sie heute noch nicht organisieren, aber morgen würde der Gemeindediener helfen, dass sie alles beieinander bekämen. Auch jetzt war Anna wieder über die Freundlichkeit der Menschen erstaunt. Es tat ihr gut, nicht abfällig behandelt zu werden. Doch mitessen wollte sie nicht, sie hatte Angst, mit dem Bürgermeister zusammen am Tisch zu sitzen. So bat sie nur um ein Stück Brot und ein Glas Wasser, welches sie draußen vor dem Haus auf der Bank zu sich nehmen wollte. Frau Friedrich, war das nur recht, sie hatte es für ihre Pflicht gehalten, als Christenmensch, diese seltsame Frau, die so elend und verzweifelt aussah, zum Essen einzuladen. Aber sie wusste auch, dass ihr Mann nicht gerne fremde Menschen am Tisch hatte.

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ach dem Essen gingen die beiden Frauen zum „Gemeindehaus,“ in dem noch ein Zimmer frei war. Das Gemeindehaus wurde von der Dorfbevölkerung „Armenhaus“ genannt. Dort wohnten Menschen ohne Einkommen, eben die Ärmsten der Armen. Doch jetzt war das eigentlich ohne Bedeutung, denn das ganze Dorf war belegt mit Familien und Einzelpersonen ohne Einkommen. Flüchtlinge und Heimatvertriebene, die alles was sie besaßen, hatten zurücklassen müssen und nun irgendwie durch die schwere Zeit gebracht werden mussten, bis dieses zerstörte Land wieder aufgebaut werden konnte. Das Armenhaus war in einem beklagenswerten Zustand: Ein Fachwerkhaus, aus dem schon die meisten Gefache herausgefallen waren und man auf Lehm und Stroh blickte. Im Haus lebten eine Kriegerwitwe mit fünf Kindern und ein Ehepaar, welches von nationalsozialistischen Lehrern und Ärzten um das Glück ihres Lebens gebracht worden war. Die beiden waren herzensgut und hatten sich nichts sehnlicher gewünscht, als eine Familie zu gründen. Doch weil die Frau etwas langsam im Denken, und in der Schule nicht recht mitgekommen war, und der Mann einen leichten Buckel hatte, hatten diese feinen Herren befürwortet, dass man die beiden sterilisieren müsse, damit ihre Kinder der arischen Rasse keine Schande machen könnten. Alles was fehlerhaft war sollte ausgerottet werden. Diese beiden Menschen litten unsäglich unter der Zwangssterilisation. Hatten sie sich doch so sehr eine Familie gewünscht. Anna dachte traurig, warum haben wir nicht rechtzeitig gemerkt, dass dieser Hitler der fleischgewordene Luzifer war und seine Anhänger eine Teufelsschar, die in den Konzentrationslagern die Hölle auf Erden haben wahr werden lassen. Was für eine wahnwitzige Vorstellung, eine Herrenrasse zu züchten! Das sagte doch schon alles über die Intelligenz dieses größenwahnsinnigen Österreichers und seiner Führungsriege aus. Sie wollten ein Volk, äußerlich das Gegenteil von Hitler, aber ihm blind ergeben, dessen einziges Lebensziel in dem Satz gipfelt: „Führer befiehl, wir folgen.“ Menschen ohne Herz, Mut und Verstand, aber bereit zu blindem Gehorsam. Eine Armee des Bösen sollte entstehen, die ganze Welt zu beherrschen. Und dafür, dass wir nicht wachsam waren, dass wir uns von den Anfangserfolgen Hitlers, wie zum Beispiel bei den Zielen Arbeit für Alle und Bekämpfung der Kriminalität, haben blenden lassen, werden wir jetzt bestraft.

Das Zimmer war nicht sehr groß, aber es hatte zwei Fenster und einen Schornstein-Anschluss an den man einen Ofen oder Herd anschließen konnte. Frau Friedrich ging durch den Raum und überlegte laut, wie man was stellen könne. Anna sagte gar nichts dazu, das alles schien ihr nicht wichtig, sie wollte nur ihren Berthold wiederfinden. Also unterbrach sie Frau

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riedrich in ihren Einrichtungsvorschlägen, mit der Frage: „An wen muss ich mich wenden, wenn ich eine Suchanzeige nach meinem Sohn aufgeben will?“ „An mich, mein Mann fährt jeden Dienstag in die Kreisstadt und dort ist die Meldestelle des Suchdienstes des deutschen Roten Kreuzes. Dort kann er Anfragen abgeben und Ergebnisse erfahren.“ „Morgen ist Dienstag,“ sagte Anna, „würden sie bitte einen Suchantrag für mich ausstellen, oder mir dabei helfen?“ „Natürlich, aber jetzt müssen wir erst jemanden finden, der uns ein Bettgestell aus dem Gemeindelager hierher bringt und eine Matratze, sowie einen Stuhl und eine Schüssel, damit sie sich waschen können. Gott sei Dank haben wir noch Möbel gelagert, die aus dem Gästehaus des Barons stammen. Der Baron hält sich nur noch selten hier auf, zumindest empfängt er keine Gäste, wie es sein Vater tat. Er ist ein Einzelgänger und lebt die meiste Zeit in Berlin, ich denke, irgendwann wird er wohl ganz dorthin ziehen und hier alles seinem Neffen überlassen. Als die ersten Flüchtlinge nach Niederbach kamen, hat er erst sein Gästehaus zur Verfügung gestellt.

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och schon nach wenigen Wochen fühlte er sich durch Kindergeschrei gestört und hat uns gebeten, doch im Dorf eine Unterkunft für die Leute zu finden. Dafür hat er uns alles, was er an Möbeln entbehren konnte, zur Verfügung gestellt, denn eigentlich kann er sich nicht gegen eine Einquartierung wehren. Die Amerikaner lassen sich auch von einem Baron nichts sagen. Deshalb, Frau Watzlav, wird ihnen unser Gemeindediener, der Schorsch König, morgen alles bringen, was sie benötigen. Ich stelle es noch heute Abend zusammen.“ „Und warum bringt mir dieser Schorsch nicht auch das Bett und die Matratze?“ „Weil er stockbetrunken ist, er hatte heute Morgen eine Menge Nachrichten im Dorf auszuschellen, dabei geht er gern von Küchenfenster zu Küchenfenster, wenn die Frauen herausschauen um zu hören, was er bekannt zu machen hat und fordert sich einen Schnaps. Und dann kann er auf einem Bein nicht stehen, oder alle guten Dinge sind drei, der Wagen hat vier Räder, und so weiter, und so weiter.

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ie Frauen machen sich dann einen Spaß daraus, ihn betrunken zu machen, es gibt ja sonst nichts zu lachen. Mir tut nur die arme Frau König leid, die hat dann das Elend mit ihm, wenn er nach Hause kommt. Der Jüngste ist er nicht mehr und vertragen kann er den Schnaps auch nicht. Aber ich frage den Otto, der über ihnen wohnt, der wird uns sicher helfen.

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uch wenn er einen kleinen Buckel hat, arbeiten kann er wie kein zweiter, auch Else, seine Frau wird uns sicher helfen. Wir nehmen einen Handwagen und laden das Gestell und die Matratze mit Bettzeug drauf. Otto zieht und Else schiebt, den Stuhl und die Handtücher können sie doch sicher tragen und ich nehme noch Waschschüssel und etwas Geschirr. Dann wären sie für heute Abend schon mal versorgt. Halt, die Lebensmittelkarten noch, damit sie bei Frau Hecke etwas einkaufen können.“ So wurde es gemacht und Anna verbrachte eine erste unruhige Nacht in ihrem neuen Heim. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.12.2006