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»Wir müssen Jugendliche mehr an die Hand nehmen«

WESTFALEN-BLATT-Interview mit Pfarrerin Birgit Winterhoff von der evangelischen Kirchengemeinde Halle

Altkreis Halle (WB). Nachdem der Amokläufer von Emsdetten erst 37 Menschen verletzt und anschließend sich selbst das Leben genommen hat, beginnt die Suche nach den Beweggründen und Ursachen für diese blutige Tat. WESTFALEN-BLATT-Mitarbeiterin Frauke Kanbach hat darüber mit der Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde Halle, Birgit Winterhoff, gesprochen.
Alles, was mit Gewalt zu tun hat, hat diesen jungen Mann scheinbar fasziniert - auch brutale Filme und Videospiele. Der Täter hat schon vor Jahren in Internetforen über seine Bemühungen beim Herstellen eigener Splatter-Filme berichtet. Was läuft in unserer Gesellschaft falsch? Hätte diese Tat verhindert werden können?
Birgit Winterhoff: Dass Gewaltvideos keine guten Wirkungen haben, wissen wir. Und auch, dass manches in unserer Gesellschaft in die falsche Richtung geht. Häufig fehlt es am Willen und am Mut, Dinge zu verändern. Veränderungen bringen nämlich auch Konflikte und Auseinandersetzungen mit sich. Davor scheuen viele zurück.

Das klingt fast so, als dürften wir uns nicht wundern, wenn so etwas Schreckliches wie in Emsdetten passiert. Wer hat denn nun Schuld?
Birgit Winterhoff: Natürlich heiße ich nicht gut, was dort geschehen ist. Aber ich heiße auch nicht gut, dass viele Jugendliche aus der Schule ohne Perspektive ins Leben entlassen werden. Sie brauchen eine Chance auf einen vernünftigen Start ins Leben. Daran müssen wir alle verstärkt arbeiten.
Ich halte daher auch nicht viel vom Pauschalisieren und Schuldzuweisungen. Man kann nicht sagen, die Eltern sind schuld oder die Lehrer sind schuld. Ich weiß aus Erfahrung, dass es viele gute Eltern und viele gute Lehrer gibt, die hervorragende Arbeit machen, die sich einsetzen und sich engagieren. Ich weiß aber auch, dass es Jugendliche gibt, die sich der Gesellschaft gegenüber verweigern. Aus welchen Gründen auch immer. Aber jeder ist ein Einzelfall für sich.

Sie arbeiten seit vielen Jahren mit Kindern und Jugendlichen. Was machen Sie als Gründe aus, die zu solch einem gewalttätigen Verhalten führen können? Wie können wir dagegen steuern?
Birgit Winterhoff: Ich kenne nicht die genauen Hintergründe zu diesem Einzelfall. Aber oft ist es das Gefühl, allein zu sein, keinen Ansprechpartner zu haben, immer nur Negativbotschaften zu hören wie »Das kannst du nicht.« oder »Du bist ein Versager.« Wir müssen Jugendlichen Angebote unterbreiten, bei denen sie sich ausprobieren können. Wo sie auch mal negative Erfahrungen machen können, ohne dass ihnen dafür gleich der Kopf abgerissen wird. Wir müssen uns mit ihnen beschäftigen.
Ein klassischer Platz, um seine Begabungen zu entdecken, ist zum Bespiel die Jugendarbeit. Egal ob in der Kirchengemeinde, in der Schule oder sonst wo. Ich finde es sehr gut, wenn sich Jugendliche für Jugendliche engagieren und dabei sich und ihre Begabungen entdecken. Erst neulich hat ein Jugendlicher zu mir gesagt, dass er noch vor einem Jahr nicht geglaubt hätte, dass er das könne. Das ist eine schöne Bestätigung für unsere Arbeit.

Artikel vom 22.11.2006