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Die Frauen rückten aus Angst jetzt noch näher zusammen. Anna und Berthold bemerkten von alldem nichts. Sie hatten beide die Augen geschlossen, hielten sich fest und wollten nichts sehen und hören, nur die Nähe und Wärme, die sie sich geben konnten, spüren. Deshalb sah Anna auch nicht, welche Gefahr auf sie zu kam. Erst als sie die Mündung eines Gewehrlaufs in ihrem Rücken spürte, öffnete sie die Augen, drehte sich um und sah direkt in das hasserfüllte Gesicht des jungen Polen mit dem Muttermal über dem rechten Auge, der am Morgen mit Josef vor ihrer Tür gestanden, und ihnen später auf dem Rathausplatz demonstriert hatte, wie Josef erschossen worden war. „Komm,“ sagte er nur zu ihr und schlug den Gewehrlauf gegen ihren Oberarm. Vorsichtig löste sie sich von Berthold, der daraufhin auch seine Augen öffnete. Als der den jungen Soldaten sah, fing er vor Schreck wieder an zu weinen, und wollte sich an Anna festklammern. Doch Anna erhob sich, sagte zu ihrer Bekannten, die mit ihren zwei Kindern neben ihr gesessen hatte: „Bitte kümmere dich um Berthold, bis ich wieder da bin,“ und zu Berthold: „Ich komme gleich wieder mein Schatz, bleib so lange bei Tante Gerda, hab keine Angst, mir passiert schon nichts, ich soll den Soldaten nur etwas kochen.“

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ie schob Gerda ihren Rucksack und die Reisetasche hin. Dann küsste sie Berthold, zog, einem inneren Impuls folgend, ihre Strickjacke aus, legte sie ihm um die kleinen Schultern, die vor Weinen zuckten, und schob auch ihn zu Gerda. Sie wusste nicht, warum sie das tat, es war ihr instinktiver Versuch, ihm etwas von ihrer Wärme dazulassen. Die Stimme des jungen Polen wurde aggressiver: „Komm Frau Doktor, komm,“ und wieder drückte er die Mündung des Gewehres in ihren Rücken. Als Berthold das sah, stürzte er sich auf ihn und schlug mit seinen kleinen Fäusten weinend auf den jungen Polen ein. Der lachte nur und gab dem kleinen Jungen einen Stoß, dass er wieder auf den Boden fiel. Gerda lief schnell zu ihm und schloss ihn fest in ihre Arme, damit er nicht hinter dem Soldaten und seiner Mama herlaufen konnte. Anna ging schnell vor dem Polen her, das Gewehr in ihrem Rücken spürend. Sie drehte sich nicht mehr um, aber sie hörte die Stimme ihres verzweifelten Sohnes, wie er immer wieder „Mama, Mama,“ rief und dabei weinte.

Der Pole schob sie in Richtung Bahnhofsgebäude. Sie ging wie eine Marionette, konnte nichts denken, denn die Angst lähmte ihre Gedanken. Als sie das Bahnhofsgebäude betraten, kamen ihnen zwei betrunkene Soldaten entgegen, die sie anspuckten und „deitsche Hure,“ nannten. Einer der beiden schien den Polen, der sie hierher geführt hatte, zu kennen. Sie begrüßten sich überschwänglich, wobei sie reichlich aus der Flasche tranken, die ihnen der dritte Soldat hinhielt. Dieser dritte zeigte dann zu einer Treppe, die nach oben führte, wo wahrscheinlich die Wohnung des Bahnhofsvorstehers war. Die beiden anderen klopften ihm begeistert auf die Schulter, und stießen Anna so heftig in Richtung Treppe, dass sie stolperte und hinfiel. Worauf sie nur in Gelächter ausbrachen und sie, als sie sich wieder aufrichten wollte, noch einmal umstießen und noch lauter lachten.

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ann zerrten sie Anna hoch und trieben sie die Treppe hinauf in die Wohnung, aus der offensichtlich schon einiges Mobiliar verschwunden war. Der junge Pole mit dem Schmetterling über dem rechten Auge, der sie hierher geholt hatte, hieß anscheinend Pavel, so nannten ihn die beiden anderen. Anna fragte sich, warum er gerade auf sie einen solchen Hass hatte? Sie kannte ihn nicht, hatte ihm auch mit Sicherheit nie etwas Böses getan. Doch sie kam mit ihren Überlegungen nicht weiter, denn er stieß sie schon über den Tisch des Wohnzimmers, zerriss mit einem Ruck ihre Kleider und drang brutal von hinten in sie ein. Der Schmerz kam so heftig, so furchtbar, dass Anna schrie und schrie, sie konnte nicht aufhören. Doch ihr Schreien schien ihn nur noch mehr aufzupeitschen, ließ ihn noch brutaler werden. Er fasste sie an den Haaren und schlug ihr Gesicht auf die Tischplatte, dass das Blut ihr aus der Nase schoss. Die beiden anderen grölten und feuerten ihn an. Dann steckte einer Anna ein zusammengeknülltes Geschirrtuch in den Mund, sodass ihre Schreie erstickt wurden. Pavel drehte sie um, riss ihr ihren Büstenhalter und den von Theresa genähten Wachstuchgürtel ab, und warf beides seinen Kameraden zu. Er schaute ihr voll Hass in die Augen, und flüsterte in klarem deutsch: „das war für Marla, meine Marla.“ Er spuckte ihr ins Gesicht, wandte sich ab und überließ sie seinen Kameraden.

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enn Anna gedacht hatte, Pavel wäre der schrecklichste dieser drei Männer, so hatte sie sich getäuscht. Diese beiden waren um einige Jahre älter als der junge Pavel, vom Alkohol enthemmt und schienen ihre sadistischen Neigungen an dieser deutschen Frau ausleben zu wollen, wobei einer den anderen an Grausamkeit zu überbieten suchte. Anna flehte um ihren Tod, doch er kam nicht.

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a löste sich ihr Bewusstsein von ihrem armen Körper. Sie sah sich plötzlich wieder als junges Mädchen, schreiend und mit den Armen wedelnd, über ein Feld laufen und einen Raubvogel verjagen. Sie hatte beobachtet, wie dieser eine Taube, die auf einem Gerüstbalken an einer Feldscheune saß, auf den Kopf gehackt hatte. Sie war sofort hingelaufen, um die Taube zu retten. Doch dieses dumme Tier war unbeweglich sitzen geblieben, auch als der Raubvogel weggeflogen war. Sosehr sie auch gerufen und gescheucht hatte, die Taube schien sich in ihr Schicksal ergeben zu haben und geduldig auf ihren Mörder zu warten. Sie schien keine Angst zu haben und auch keinen Schmerz zu spüren. In diese Taube verwandelte sich Anna und wartete auf ihren Tod. Sie spürte keinen Schmerz mehr, nur eine ruhige Ergebenheit in ihr Schicksal.
Als kein Lebenszeichen mehr von ihrem Opfer kam, ließen die Männer endlich von Anna ab. Doch ehe sie die Wohnung verließen, tranken sie die Flasche Schnaps leer, die sie dabei hatten, urinierten auf die bewusstlos daliegende, geschundene Frau und torkelten dann grölend die Treppe hinunter in die Bahnhofshalle. Dort trafen sie Pavel wieder, der sein Gewissen inzwischen mit Alkohol betäubt hatte und gemeinsam verließen sie den Bahnhof, um die nächste Kneipe aufzusuchen.

Ein langer Güterzug rollte in den Bahnhof. Die Türen wurden aufgeschoben und mit lautem Geschrei wurden alle aufgefordert in die Waggons zu steigen. Gewehrschüsse krachten, um die Deutschen einzuschüchtern und zur Eile zu drängen. Gerda starrte, genau wie Berthold, verzweifelt zum Bahnhofseingang. Warum kam Anna nicht? Was war passiert? Sie nahm ihr Gepäck, hängte Berthold und ihren beiden Kindern die Rucksäcke um und lief zu dem Zug, immer wieder die Kinder antreibend. Berthold wollte nicht, er wollte auf seine Mama warten. Doch sie durften diesen Zug nicht verpassen, wer weiß, was diese Soldaten dann mit ihnen machen würden. „Bitte Berthold, komm,“ rief sie, „deine Mama kommt nach, wir lassen ihr Gepäck hier, dann kann sie mit dem nächsten Zug hinter uns her kommen. Nach der Grenze warten wir auf sie.“ Berthold folgte ihr ängstlich und zögernd. Inzwischen war es so dunkel, dass die Soldaten die Scheinwerfer einiger Militärfahrzeuge eingeschaltet hatten, um den Einstieg der Deutschen in die Güterwaggons zu überwachen. Als sie in der Schlange vor dem Einstieg in den nächsten Waggon standen, hörten sie plötzlich wildes Gegröle vom Bahnhofseingang her. Sie drehten sich um, und sahen die Soldaten aus dem Gebäude kommen. Berthold erkannte im Scheinwerferlicht den Soldaten, der seine Mama mitgenommen hatte. „Tante Gerda, sie haben fertig gegessen,“ rief er Gerda zu, „Mama kommt bestimmt gleich, ich warte auf sie.“ Er schlich sich seitwärts in die Dunkelheit und presste sich dicht an den Bahndamm, damit die Soldaten ihn nicht entdeckten. Gerda hatte keine Gelegenheit, ihm zu antworten, die vor ihr aufgestiegenen Frauen reichten ihr die Hände und sie und ihre Kinder mussten in den Waggon. Sie blieb an der geöffneten Tür des Waggons sitzen und rief immer wieder so laut sie konnte Annas und Bertholds Namen.

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amit die beiden sie fänden und noch einsteigen könnten. Sie war nicht sicher, was Berthold gerufen hatte, aber „Mama kommt“ hatte sie genau gehört. Doch dann kam ein Soldat, schob die Waggontür zu und verriegelte sie. Gerda hoffte, dass die beiden es noch in einen anderen Waggon geschafft hatten, und sie sich jenseits der Grenze wiedersehen würden. Hauptsache, Anna war wirklich aus dem Bahnhof gekommen und hatte Berthold wiedergefunden. „Oh, mein Gott,“ dachte Gerda, „was ist, wenn er sich geirrt hat in der Dunkelheit, und Anna nicht wiedergekommen ist, wenn sie ihr etwas angetan, oder sie gar umgebracht haben? Und der kleine Junge ist jetzt ganz allein auf diesem fremden Bahnhof.“ Sie machte sich Vorwürfe, dass sie ihn nicht hatte vor sich her gehen lassen, aber es war alles so schnell gegangen und die Angst, ihre eigenen Kinder zu verlieren, war so groß gewesen. „Mein Gott,“ betete sie, „mach, dass Anna und Berthold sich gefunden haben und auch in diesem Zug sind. Ich werde sonst meines Lebens nicht mehr froh.“ (wird fortgesetzt)

Artikel vom 23.11.2006