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Da beruhigte er sich wieder etwas, aber leise weinte er weiter um Opa Josef. Anna hätte so gerne auch ihren Tränen freien Lauf gelassen, sie trauerte um Josef und hatte schreckliche Angst um Theresa, um Berthold, sich selbst und sogar um die Hündin. Was war passiert? Lebten die beiden noch, oder waren sie auch erschossen worden. Was war mit den Kindern von Josef und Theresa, soviel sie wusste, waren sie führende Köpfe im Widerstand gegen die Deutschen. Wussten sie, dass ihre eigenen Leute ihren Vater erschossen hatten, und vielleicht auch ihre Mutter? Anna fror bei diesem Gedanken, obwohl es inzwischen schon sehr warm war. Warum fuhren die Lastwagen nicht endlich los? Seit einer halben Stunde war niemand mehr dazugekommen. Anscheinend war die gesamte Bevölkerung von Mittelwalde jetzt hier versammelt. Worauf wartete man noch?
Es dauerte noch eine ganze Stunde, bis es endlich hieß: „Aufsteigen!“ Und da sie jetzt direkt neben dem Wagen mit der Plane standen, stiegen sie schnell auf, bevor andere ihnen die guten Plätze streitig machen konnten. Während sie sich noch gegenseitig hinaufhalfen, fuhr in schnellem Tempo ein russisches Militärfahrzeug auf den Platz. Auch die polnischen Fahrer der Lastwagen erschienen und stiegen in die Fahrerkabinen. Das russische Fahrzeug führte die Kolonne an. Auf jeden Lastwagen stieg ein bewaffneter Pole, und dann ging die Fahrt in den

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esten los. Anna holte die Flasche Apfelsaft aus dem Rucksack, goss einen Emaillebecher voll, reichte ihn erst Berthold, der vom Weinen und der Wärme durstig war, und als er genug hatte, trank sie den Becher leer. Die anderen Kinder wollten auch etwas trinken, und so packten jetzt alle aus, was sie dabei hatten, und man aß und trank zusammen. Essen und Trinken hat eine wunderbare Wirkung auf Menschen, es beruhigt, und lässt auch die schwierigsten Lebensbedingungen leichter erscheinen. Jedenfalls wich während des gemeinsamen Essens die angstvolle und beklemmende Stimmung unter den Menschen etwas. Und wenn wegen des Ruckelns der eine oder andere sein Getränk verschüttete, hörte man sogar ein zaghaftes Lachen. „Wir haben den Mut noch nicht verloren,“ dachte Anna. Sie sah in das unschuldige Gesichtchen Bertholds, und wünschte sich, sie könnte ihm eine sichere und friedliche Zukunft, statt Angst und Ungewissheit, garantieren. Doch nichts lag mehr in ihrer Macht. Jetzt bestimmten die Sieger. Und zur Zeit waren das Menschen, die selbst gedemütigt und entrechtet worden waren, die viele Tote zu beklagen hatten und die für die Deutschen nur Hass empfinden konnten. Und wenn einige diesen Hass nicht teilten, weil sie keine schlechten Erfahrungen mit den Deutschen gemacht hatten, wurden sie von ihren Landsleuten als Verräter umgebracht, wie Josef, ihr guter Freund.

Sie fuhren jetzt schon über zwei Stunden durch zerstörte Landschaften und Dörfer. Und immer wieder kamen ihnen auf der Straße Russen in ihren kleinen Pferdefuhrwerken entgegen, Panjewagen und Panjepferde nannte man sie. Sie waren klein, schnell und wendig. Jetzt war jeder Panjewagen voll beladen, mit Sachen, die von den russischen Soldaten aus den verlassenen Häusern der Deutschen geplündert worden waren. Als sie an einem Birkenwäldchen vorbei kamen, träumte Anna, wie schön es wäre, sich jetzt im Schatten der Bäume in das kühle Gras legen zu können. Als wären ihre Wunschgedanken erhört worden, kam die ganze Kolonne plötzlich zum stehen. Russische und polnische Befehle wurden gebrüllt, und sie mussten von den Lastwagen absteigen. Man trieb sie auf eine Wiese, die zwischen der Landstraße und dem Wäldchen lag. Eigentlich waren alle froh, von den Lastwagen absteigen zu können, denn sie waren so durchgerüttelt, dass ihnen, besonders den Älteren, die Knochen und Gelenke weh taten. Anna blieb mit den anderen drei Frauen und ihren Kindern dicht beieinander, sie suchten sich einen Platz im Schatten der Birken. Die Fahrer der Lastwagen machten nur eine kurze Pause, dann stiegen sie in die Wagen, wendeten und fuhren wieder zurück, in Richtung Osten. Die bewaffneten Wachen blieben da, unterhielten sich und schienen auf etwas zu warten. Nach einer halben Stunde kam wieder ein Panjewagen in rascher Fahrt die Straße entlang und hielt bei dem Militärfahrzeug der Russen. Nach kurzem Palaver zwischen den Russen und Polen, wendeten beide Fahrzeuge der Russen und fuhren ebenfalls zurück.

Die etwa zehn bewaffneten Polen kamen von der Straße auf die Wiese und schossen in die Luft, um auf sich aufmerksam zu machen. Es dauerte eine Weile, bis alle begriffen, dass sie sich zur Straße begeben sollten und zu Fuß würden weitergehen müssen in Richtung Westen. Auch die Polen mussten laufen, und das schien ihnen in der Hitze gar nicht zu gefallen, denn sie wurden zunehmend aggressiver und gefährlicher. Anna nahm ihren Rucksack auf den Rücken, Berthold an die eine Hand, die Reisetasche in die andere, und marschierte genau wie die anderen Mütter mit ihren Kindern, und die alten Männer und Frauen die sich gegenseitig stützten, in einer Kolonne auf der Straße in Richtung Westen. Die Sonne brannte vom Himmel und Anna spürte, wie ihr der Schweiß am Körper runter lief. Nach etwa einer Stunde taten Berthold die Füße weh, er jammerte und weinte, wollte sich nur einmal hinsetzen und ausruhen.

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nna erlaubte ihm, sich an den Straßenrand zu setzen und gab ihm etwas Apfelsaft zu trinken. Plötzlich ein Schuss, direkt neben Berthold in den Boden. Er verschluckte sich vor Angst und Schrecken, fing an zu husten und zu weinen. Der Pole, der offensichtlich schon angetrunken war, lachte und fuchtelte mit dem Gewehr vor Anna und dem Jungen herum. Schnell zog sie Berthold auf die Füße, und unter dem Gelächter des Polen rannten sie wieder in die Kolonne, um aus seinem Blickfeld zu verschwinden. Berthold weinte nicht mehr, und beklagte sich auch nicht. Die Angst ließ ihn genauso vorwärts laufen, wie Anna. Immer wieder mussten sie von der Straße runter, in den Graben, wenn ihnen Lastwagen, vollgepackt mit Möbeln und Hausrat, entgegenkamen. Das Gefühl der Verlorenheit und des Ausgeliefertseins, wurde immer stärker in Anna und sie hielt Bertholds Hand so fest, dass er „Aua“ schrie. Schnell lockerte sie ihren Griff, beugte sich kurz zu ihm hinunter, um ihm einen Kuss zu geben. Er tat ihr so leid, wie er voller Angst neben ihr herhastete und stolperte.

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s war einfach zuviel für ein Kind. Sie dachte an ihren Mann, lebte er noch? Sie hatte so lange nichts mehr von ihm gehört. Ein Gefühl großer Trauer überkam sie, und wenn sie es auch immer verdrängt hatte, jetzt musste sie sich eingestehen, dass er wahrscheinlich tot war. Nur so war das monatelange Schweigen erklärbar. Dicke Tränen rannen über ihr Gesicht, während sie mit Berthold an der Hand, versuchte mit der Kolonne Schritt zu halten. Sie sah auf ihren kleinen Sohn hinunter, der immer wieder strauchelte, und sich ein Knie auf dem Schotter des Straßenrandes aufgeschlagen hatte, als der polnische Soldat ihn mit dem Schuss vor seine Füße, erschreckt hatte.
Das Blut lief ihm den Unterschenkel hinab, jeder Schritt musste ihm doch weh tun. Wieso hatte sie das nicht gleich bemerkt? Aber hätte es etwas geändert? Nein! Sie mussten weiter, denn die polnischen Soldaten machten sich einen Spaß daraus, jedem, der einmal stehen blieb, oder sich gar hinhocken wollte, vor die Füße zu schießen. Anna hatte noch nie in ihrem Leben soviel Hass gespürt, wie diese jungen polnischen Soldaten ausstrahlten. In der Ferne sahen sie die Häuser einer Stadt auftauchen und hörten das Tuten einer Lokomotive. Das musste Haynau sein, hier fuhren also noch Züge. Eine Viertelstunde später standen sie tatsächlich am Bahndamm an der Stadtgrenze von Haynau und durften Rast machen.

Müde und erschöpft ließen sich Anna und Berthold in das Gras fallen. Anna schnallte den Rucksack ab und holte genau wie alle andern ihren Proviant heraus. Sie aßen jeder eines von Theresas guten Schnitzeln und tranken Apfelsaft. In ihrem Rucksack hatte Anna Verbandszeug. Sie säuberte Bertholds Wunde am Knie, mit ihrem Taschentuch und Spucke, legte ein Stückchen Mull auf und klebte es mit Leukoplast fest. Inzwischen war es kühler geworden, sodass Anna ihre leichte hellblaue Strickjacke aus der Tasche kramte und überzog. Auch Berthold musste seine grüne Trachtenjacke anziehen. Sie legten sich erschöpft in das Gras des Bahndammes, und Anna nahm Berthold fest in ihre Arme.

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er kleine Kerl war völlig fertig, er zitterte am ganzen Körper, die Ereignisse dieses Tages hatten eine Art Schock bei ihm ausgelöst. Anna sprach liebevoll und beruhigend auf ihn ein, streichelte und küsste ihn, bis er leise anfing zu weinen. Anna ließ ihn weinen, denn nur so konnte er den Schock überwinden. So lagen sie eng umschlungen an diesem Bahndamm und klammerten sich aneinander fest. Die polnischen Soldaten hatten sich inzwischen im Bahnhof mit alkoholischen Getränken versorgt. Auch viele Russen liefen herum, mit Wodkaflaschen in der Hand, die sie den Polen anboten. Eine alkoholisierte Stimmung machte sich bei den Soldaten bemerkbar. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.11.2006