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Wenn das Elend ohne Gesellschaft ist

Bielefelder Nachwuchsautorin Que Du Luu stellt ihren Debütroman »Totalschaden« vor

Von Annemargret Ohlig
(Text und Foto)
Senne (WB). »Das Elend liebt Gesellschaft« - für Patrick, den ungeselligen, etwas linkischen Jurastudenten aus Bielefeld, ist dieses die Grundlage der vertrauensvollen Zweckgemeinschaft mit »Tomate« - seinem ebenfalls von anderen Gleichaltrigen ausgegrenzten Freund aus Schultagen.

Doch dann bekommt - von einem Tag auf den anderen - nicht nur diese Nähe in der einzigen engen zwischenmenschlichen Beziehung einen nachhaltigen Riss: Der wenig attraktive »Tomate« stellt ihm nämlich seine Freundin vor - und eine hübsche noch dazu. Plötzlich »hatte das Elend keine Gesellschaft mehr«, stellt Patrick fest, dessen sonstige Sozialkontakte gegen null tendieren.
Zumal auch sein nachhaltig seit 14 Jahren aus Verdrängung zusammengefügtes Leben urplötzlich durch ein »Einstein-Poster« auf den Kopf gestellt wird. Que Du Luu, Studentin der Germanistik und Philosophie an der Bielefelder Universität mit chinesischen Wurzeln, las am Mittwochabend in einer gemeinschaftlichen Veranstaltung des Kulturkreises Senne und der Senner Buchhandlung »ex libris« vor mehr als 50 Literaturinteressierten.
Es war in Bielefeld die erste Lesung aus ihrem Debütroman »Totalschaden« - in anderen Städten hat die 33-jährige Förderpreisträgerin des Adelbert-von-Chamisso-Preises 2007 ihren Erstling bereits mit großem Erfolg vorgestellt. Es ist eine Geschichte über menschliche Einsamkeiten, über das Erwachsen- und das Verlassenwerden, über die Ambivalenz der Gefühle, die Que Du Luu in schnörkelloser Sprache erzählt. Einer Sprache, die mit ihrem Protagonisten Patrick gleichsam in der Wortwahl »heranwächst«.
Als der Jurastudent durch Zufall im Apartment seiner Nachbarin das Einstein-Poster entdeckt, brennt etwas ihn ihm durch. Die Erinnerung an den Abend seines zehnten Geburtstages lässt ihn ausflippen - und stürzt ihn in schier unlösbare Konflikte. Damals, vor 14 Jahren, hatte seine psychisch kranke Mutter dem Vater bei einer Autofahrt ins Lenkrad gegriffen: Der von ihr verehrte Einstein habe an der Straße gestanden, begründet sie später - deshalb das Ausweichmanöver, bei dem das Auto gegen einen Baum prallt. Der Vater ist tot, die Mutter kommt in die Psychiatrie in Bethel und Patrick zu Verwandten.
Der Junge zieht sich in sich zurück, lehnt jeden Kontakt zu der Mutter ab. Die Frage: »Ich habe ihre Gene - werde ich auch verrückt?« beschäftigt ihn fortan unaufhörlich. Es ist das erste Mal, dass sich Patrick mit dieser Frage auseinandersetzt - auseinandersetzen muss. Denn Barbara, eine Erzieherin in Bethel und Vertrauensperson seiner Mutter, von der sich Patrick »ambivalent« angezogen fühlt, drängt ihn dazu. Es ist ein schwieriger Weg, den die junge Autorin mit den richtigen Worten aufzeichnet - salopp und nachdenklich, in knappen Dialogen, in anrührenden Beschreibungen der Vergangenheit, in bedrückenden Szenen in der Psychiatrie, die für die Mutter (k)ein Zuhause geworden ist.
Erst als Patrick den Zorn auf seine Mutter, seine Vorwürfe Stück für Stück bewältigt, stellt er fest: »Nur wenn man allein ist, erinnert man sich an schöne Augenblicke.« Ein Fazit, mit dem Que Du Luu ihrem Protagonisten den Blick zurück in seine Kindheit während der Zeit ermöglicht, als seine Seele noch unbeschädigt war. Eine Zukunft wird möglich.

Artikel vom 17.11.2006