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Arzt verlässt OP -
Patientin stirbt

Mediziner klagt gegen Kündigung

Von Hubertus Hartmann
Brakel (WB). Eine Operation ohne Anästhesisten - für eine Altenheimbewohnerin (90) aus Höxter wurde der Alptraum zur tödlichen Realität. Der Chefarzt wurde fristlos entlassen, die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen fahrlässiger Tötung.

Norbert Müller, Anwalt des beschuldigten Dr. Norbert R. (55), weist allerdings sämtliche Vorwürfe zurück: »Mein Mandant hat auch nicht ansatzweise Schuld an dem bedauerlichen Tod der Patientin«. Beim Paderborner Arbeitsgericht klagt er gegen den Rausschmiss. 18 Jahre war Dr. R. - monatliches Bruttoeinkommen rund 20 000 Euro - am St. Vincenz-Hospital Brakel tätig. 23 000 Anästhesien habe er dort durchgeführt, merkt Müller an. Doch als die alte Dame Anfang März auf dem Operationstisch starb, war der Arzt nicht anwesend. Der Patientin sollte eine Hüftprothese implantiert werden. »Schon angesichts des Alters musste man mit Problemen rechnen«, sagt Krankenhaus-Anwalt Johannes Schipp. »Zudem hatte sie einen Herzschrittmacher.« Aufgabe des Anästhesisten sei es, die Vitalfunktionen zu überwachen. Ausgerechnet als der schwierige Teil des Eingriffes, der stets mit der Gefahr eines plötzlichen Blutdruckabfalls verbundene Einzementieren, begann, sei Dr. R. zur Toilette gegangen. Zuvor sei er schon einmal im Frühstücksraum gesehen worden. »Ich kann das Elend nicht mehr sehen«, soll er dort geäußert haben.
Die verdeckt hinter einem Tuch arbeitenden Chirurgen - für eine junge Assistenzärztin war es die erste selbstständige Operation - hatten nicht bemerkt, dass der Narkosearzt gegangen war. »Sonderbar, dass da keine Kommunikation zwischen Anästhesist und Operateur stattfindet«, wundert sich Arbeitsrichterin Silke Petersen. Sie muss entscheiden, ob das Verhalten des Chefarztes eine fristlose Kündigung rechtfertigt. »Eine Pflichtverletzung eines Arztes ist schon etwas anderes als die eines Sachbearbeiters in der Buchhaltung«, so die Richterin, »denn hier geht es um Menschenleben«.
Dr. Norbert R., der seit März arbeitslos ist, lässt keinerlei Unrechtsbewusstsein erkennen. Er habe sich bei seinem Oberarzt im Nachbar-OP abgemeldet, behauptet er. »Parallelnarkosen sind in Deutschland gängige Praxis.« Der Oberarzt kann dazu nichts mehr sagen - er ist zwischenzeitlich verstorben. Durch die Vernehmung anderer Zeugen hofft das Gericht, den Geschehensablauf aufklären zu können.
Schwer belastet wird Dr. R. durch einen medizinischen Sachverständigen. »Ursache für den Tod der Patientin sind medizinische und organisatorische Versäumnisse«, heißt es in dem Gutachten. Dr. R. trage hierfür als Chefarzt und Anästhesist die Verantwortung.

Artikel vom 10.11.2006