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Am roten Teppich hilft
nur ein breites Kreuz
JUGENDSTIL-Mitarbeiter ging bei der Berliner »You« auf Promi-Suche
Hysterische Fans, Mädels, die in Ohnmacht fallen - seit den Beatles ist das Alltag an roten Teppichen der Musikszene. JUGENDSTIL-Mitarbeiter Peter Reineke hat sich bei der Jugendmesse »You«, die jetzt in Berlin zu Ende gegangen ist, am roten Läufer bis zur Band »US 5« durchgekämpft. Das Trommelfell musste leiden.
Musik kann für die Ohren sehr schädlich sein. Jeder, der schon einmal neben einem Lautsprecher in der Disco stand und Gitarrenrock in seiner ganzen Wucht von 110 Dezibel lauschen durfte, weiß das. Aber selbst wenn Bässe und Gitarren schweigen, reicht bereits das Erscheinen gewisser Musiker aus, um einen immensen Lautstärkepegel zu erzeugen.
Das Messegelände im Berliner Westen: Ein Strom jugendlicher Besucher treibt über die Jugendmesse »You«. Kurz vor dem Eingang zur Showbühne kommt die Masse zum Stehen. Es herrscht gewaltiger Aufruhr: Ein Fernsehsender vergibt heute die »Kids Awards« und hat dafür einen roten Teppich ausgelegt, über den die Gewinner schreiten sollen.
Etwa zehn Meter entfernt auf dem Teppich steht gerade der TV-Komiker Oliver Kalkofe und gibt ein Interview. Warum bekommt ausgerechnet Kalkofe einen der Preise? Der Jüngste ist er schließlich nicht mehr und im Fernsehen war er auch schon lange nicht mehr zu sehen. Im Publikum herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Ein kleiner Türke mit weiten Hosen und Baseball-Mütze drängelt von hinten und fragt: »Ey, Alter, wer ist denn das da vorne?«
Um einiges bekannter sind da schon die Jungs von »US 5«. Die fünf Musiker aus Deutschland, England und den USA sollen als beste Band geehrt werden, in Deutschland haben sie dank Hits wie »Maria« oder »In The Club« eine große Fangemeinde.
Oliver Kalkofe hat den Teppich gerade verlassen, und »US 5« sind noch nicht in Sicht. Die Fans kreischen sich trotzdem schon mal warm. Als ein Mädchen vorne am Absperrgitter laut »Scheiß Tokio Hotel« schreit, droht die bis dahin friedliche Stimmung zu kippen. Sympathisantinnen der beiden Bands kreischen sich aus vollem Halse an. Ein leichtes Zucken in den Ohren macht sich bemerkbar. Auch das Sicherheitspersonal ist auf den Unruheherd aufmerksam geworden - obwohl die Aufpasser allesamt Ohrstöpsel tragen. Doch selbst ein beherztes »Ruhe da drüben« kann den Kreischeifer der Mädels nicht stoppen.
Einige Meter entfernt versorgt ein Rettungsassistent ein gestürztes Mädchen, derweil hat sich ein älterer Mann fast bis nach vorne an den Teppich vorgekämpft. Er trägt einen dunklen Schnurrbart und eine Brille, in der Hand hält er ein Programmheft, Schweiß rinnt seine Stirn herunter. Immer wenn ein Pop-Sternchen den Teppich betritt, dreht er sich um und sucht verzweifelt Blickkontakt mit seiner kleinen Tochter, die in gebührendem Abstand auf einem Mülleimer steht und von oben den Herrn Papa dirigiert. Der streckt sich dann nach Kräften und versucht, Ex-No-Angel Sandy oder Fernsehmoderatorin Gülcan über viele Köpfe hinweg das Programmheft zu reichen. Autogrammjäger müssen hart sein.
Als dann endlich »US 5« auf den Teppich treten, fünf junge Männer mit breitem Grinsen und hoher Fernsehtauglichkeit, kennt die Begeisterung keine Grenzen mehr. Digitalkameras und Handys schnellen in die Höhe, Plakate werden geschwenkt, das Sicherheitspersonal muss sich gegen das Absperrgitter stemmen. Jetzt wird klar, warum bei der »You« so viele Info-Zettel verteilt werden: Man muss sich offenbar damit zufächeln, um bei Bewusstsein zu bleiben. Die Luft ist verbraucht, Platz zum Bewegen gibt es kaum. Links und rechts wird gekreischt, was die Kehle hergibt. Es klingt so, als würde einem eine rotierende Kreissäge direkt ans Ohr gehalten.
Dann doch lieber 110 Dezibel Gitarrenrock in der Disco.

Artikel vom 11.11.2006