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»Schlechter könnte das Zeugnis kaum ausfallen, das die EU-Kommission der Türkei ausstellt.«

Leitartikel
Fortschrittsbericht Türkei

Schluss mit
dem ständigen
Nachgeben


Von Dirk Schröder
Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei stecken in der Krise - und das ist noch eine eher harmlose Umschreibung des Ist-Zustandes. Im Augenblick ist die Möglichkeit größer, dass die von Anfang an unter keinem guten Stern stehenden Verhandlungen abgebrochen oder zumindest unterbrochen werden, als dass es einen Weg gibt, die festgefahrenen Gespräche aus der Sackgasse herauszuführen.
Der Fortschrittsbericht zur Türkei, den die Europäische Kommission heute veröffentlicht, wird nicht dazu beitragen, eine Lösung einfacher zu machen. Mit »schwierige Situation« umschreibt Bundeskanzlerin Angela Merkel noch sehr zurückhaltend ihre Enttäuschung über die türkische Haltung. Man spürt deutlich, dass sie kurz vor Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft im Januar eine politische Konfrontation vermeiden will.
Dabei ist der Fortschrittsbericht nun wirklich nicht dazu angetan, optimistisch für den weiteren Fortlauf der Beitrittsgespräche zu sein. Schlechter könnte das Zeugnis kaum ausfallen, das die EU-Kommission der Türkei ausstellt. Weder beim Kampf gegen Folter noch bei der Zypern-Frage oder den Menschenrechten habe es echte Fortschritte gegeben.
Festzustellen ist, dass es seit dem Beginn der Verhandlungen vor gut einem Jahr kaum noch Reformerfolge gibt. Die Türkei sei »stehen geblieben«, stellte das Europäische Parlament denn auch zu Recht fest Dabei hatte Ministerpräsident Tayyip Erdogan doch immer erklärt, weitere Reformen fielen seinem Land leichter nach dem Beginn der Gespräche.
Eines muss jetzt klar sein, allein die Türkei ist am Zug. Wenn sie den Fortschrittsbericht nicht als letzten Weckruf versteht, sieht es sehr düster um die weiteren Verhandlungen aus. Es ist an der Zeit, dass die Kommission eine strikte Haltung an den Tag legt und der Türkei nicht immer wieder nachgibt.
Es geht nicht darum, ein Scheitern der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei herbeizureden, wie Außenminister Frank-Walter Steinmeier mahnt.
Der Fehler, die Beitrittsgespräche begonnen zu haben, obwohl das Land noch weit von den Voraussetzungen für einen Beitritt entfernt war, kann jetzt nicht korrigiert werden. An Verträge sollte sich die EU halten. Doch muss es Schluss sein mit der nachgiebigen Haltung gegenüber der Türkei.
Nicht zuletzt diese wachsweiche Politik gegenüber Ankara ist einer der Gründe für die Verfassungskrise und die skeptische Haltung der Bürger gegenüber diesem Riesengebilde, das sich Europäische Union nennt.
Die EU-Politiker sollten trotz der Tatsache, dass drei Viertel der Türken kein Vertrauen mehr zur EU haben und die Stimmung in dem Land nationalistischer und anti-westlicher wird, standhaft bleiben und endlich darauf bestehen: Die EU-Regeln müssen auch für die Türkei gelten.
Zugegeben, eine schwierige Gratwanderung. Denn es ist auch im Interesse der Europäer, dass die europäische Perspektive der Türkei nicht zugeschüttet wird.

Artikel vom 08.11.2006