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»Der Fernseher ist kein Babysitter«

Interview mit Ursula Doppmeier (CDU) zur Verwahrlosung und Förderung von Kindern

Altkreis Halle (WB). Fast jeden Tag ein neuer Fall. In Weimar ist ein fünf Wochen altes Baby in der Klinik nach Misshandlung und Körperverletzung gestorben. Der Bielefelder Sozialwissenschaftlicher Klaus Hurrelmann geht davon aus, dass in Deutschland etwa 80 000 Kinder von Verwahrlosung bedroht sind. Wie dies zu verhindern ist und wie Kinder besser gefördert werden können, darüber sprach WESTFALEN-BLATT-Redakteur André Best mit der heimischen CDU-Landtagsabgeordneten und Expertin für Familienfragen, Ursula Doppmeier.

Was machen Eltern falsch?
Ursula Doppmeier: Eltern machen nichts falsch, sie sind jedoch häufig überfordert. Die aktuellen Fälle von Kindesmissbrauch, die öffentlich bekannt geworden sind, zeigen, dass schwierige Situationen wie Arbeitslosigkeit, Eheprobleme oder Alleinerziehung leider dazu führen, dass Kinder darunter leiden müssen - bis hin zum Missbrauch. Eltern wissen häufig nicht, wo sie Hilfe bekommen. Bei dieser Hilflosigkeit, keine Anlaufstellen zu finden oder zu kennen, fangen die Probleme an.

Was wollen Sie dagegen tun?
Ursula Doppmeier: Ich mache mich für den Aufbau eines Frühwarnsystems stark. In der Praxis bedeutet das, dass eine Vertrauensperson vom Jugendamt oder ehrenamtlich tätige und ausgebildete Menschen Eltern oder Mütter mindestens einmal im Jahr aufsuchen. Sie sollen schauen, ob in der Familie und mit dem Kind alles okay ist. Nach dem Ampelsystem können die Experten Einstufungen vornehmen. Grün bedeutet: alles in Ordnung, gelb bedeutet: Vorsicht, hier müssen wir achtsam sein, und rot bedeutet: Hier müssen wir tätig werden.

Das hört sich nach Kontrolle an.
Ursula Doppmeier: Wir wollen die Eltern nicht kontrollieren, sondern ihnen Unterstützung geben, Hilfsangebote machen. Beispiel: Jeder kennt noch die Familienhebammen, die den Müttern auch nach der Geburt beratend zur Seite standen und sie auch besucht haben. Da müssen wir wieder hin. Wir müssen dafür sorgen, dass die Hilfe zu den Menschen nach Hause kommt und nicht umgekehrt.

Damit alleine werden Sie die Verwahrlosung und fehlende Förderung von Kindern nicht in den Griff kriegen.
Ursula Doppmeier: Genau. Die erste staatliche Untersuchung eines Kindes wird gemacht im Alter von fünf Jahren, also kurz bevor das Kind zur Schule geht - das ist zu spät. In Nordrhein-Westfalen planen wir, Untersuchungen zur Pflicht werden zu lassen. Die so genannten Checks U 1 bis U 9 sind ja freiwillig. Wenn wir früher untersuchen, kann dem Kind auch früher präventiv geholfen werden. Bei der Untersuchung geht es übrigens nicht nur um das Thema Missbrauch, sondern hier sollen ganz normale Probleme und Krankheiten wie zum Beispiel eine Lese-Rechtschreibschwäche, Hörschwierigkeiten und ähnliche Dinge erkannt werden. Physische und psychische Probleme zu erkennen und dagegen etwas zu tun - darum geht es. Hier sind die Parteien übrigens einer Meinung.

Wie kann das alles geleistet werden?
Ursula Doppmeier: Wir werden die Kindergärten an die Familienzentren anschließen. Mit den Kindergärten erreichen wir mehr als 90 Prozent aller Kinder. Die Familienzentren sollen helfen. Aktuell sind es in Nordrhein-Westfalen 250, Ende 2007 werden es 1000 sein und im Jahre 2010 sogar 3000. Wir müssen wieder dahin kommen, dass bei Erziehern die Alarmglocken schrillen, wenn das Kind blaue Flecken hat.

Hier sprechen Sie auch gesellschaftliche Probleme an.
Ursula Doppmeier: Die Menschen müssen wieder mehr Wert legen auf das soziale Miteinander. Früher galt die Devise: Ich brauche den Nachbarn nicht, ich habe ja einen eigenen Rasenmäher. Hier müssen wir wieder deutlich machen, dass ein soziales Miteinander für die Menschen lebenswichtig ist. Wir können das jedoch nicht staatlich verordnen, sondern Appelle geben und positive Beispiele herausstellen, wie es in einer harmonisch funktionierenden Nachbarschaft laufen kann. Hier ist übrigens auch das Fernsehen und sind Medien allgemein gefordert.

Sie wollen auch Veränderungen in den Kindergärten. Welche?
Ursula Doppmeier: Wichtig ist, dass wir künftig in den Kindergärten verstärkt auch Bildung vermitteln. Die Kinder im Alter von zwei bis fünf sind am aufnahmefähigsten, das ist wissenschaftlich belegt. Wir brauchen eine Qualitätssteigerung und eine Sprachförderung in unseren Kindergärten. Auch das bewusste Vermitteln von Sozialkompetenz ist wichtig. Außerdem müssen die Erzieherinnen besser und mehr fortgebildet werden. Kindergarten soll nicht Schule werden, sondern Wissen vermitteln - und zwar auf spielerische Weise.

Was würden Sie Eltern allgemein mit auf den Weg geben?
Dass Eltern versuchen, so viel Zeit wie möglich mit ihren Kindern zu verbringen. Dazu gehören ganz normale Freizeitbeschäftigungen wie zum Beispiel ein gemeinsames Gesellschaftsspiel. Das Spiel »Mensch ärger Dich nicht« - man glaubt gar nicht, welche wichtigen sozialen Dinge dieses Spiel vermittelt und gleichzeitig sogar noch Spaß macht. Nicht erwünscht ist dauerhaftes oder zu viel Fernsehen oder Computer. Kinder bis zu zehn Jahren sollten nicht länger als eine Stunde Fernsehen am Tag gucken - und wenn, dann nur, wenn mindestens ein Elternteil dabei ist. Zuviel Fernsehen ist Gift. Der Fernseher darf nicht zum Babysitter werden.

Artikel vom 20.10.2006