18.11.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Helma dachte: „Es sieht aus, als käme dieser Mann direkt von der Sonne.“ Als er näher kam, erkannte ihn eine der Helferinnen als ihren Bruder, der als Söldner in der Fremdenlegion diente. Er sah umwerfend und verwegen aus, groß, dunkelhaarig, eine schwarze schmale Hose und ein strahlend weißes offenes Hemd an, welches seine gebräunte muskulöse Brust sehen ließ. Die jungen Frauen im Kreis starrten ihn fasziniert an. Er begrüßte seine Schwester überschwänglich und wirbelte sie einmal rundum durch die Luft. Dabei lachte er laut und herzlich und rief immer wieder: „Mein Gott, du bist ja erwachsen geworden, meine kleine Schwester ist erwachsen geworden,“ und lachte wieder, dass jeder merkte, wie glücklich er war, seine Schwester zu sehen. Helma dachte neidisch: „So freut sich Konrad nie, wenn er mich sieht.“

D
och es war nur ein kurzer Gedanke, denn der Fremde setzte sich zu ihnen in den Kreis, begrüßte alle und erzählte dann so spannend von seinen Erlebnissen und einer Welt, die sie alle nicht kannten, sogar von Afrika, dass Helma sofort beschloss, auch aus ihrem Dorf in die Welt zu gehen, wenn sie groß wäre. Dieser Entschluss wurde noch vertieft, als Konrad eines Tages zu ihr sagte, dass sie auf keinen Fall auf dem Hof bleiben könne, wenn sie groß sei. Denn der Hof würde später ihm gehören und er wolle auf keinen Fall, dass sie dann immer noch da sei. „Nicht dass du mir eines Tages noch als ledige Tante auf der Tasche liegst, wenn ich den Hof übernehme. Wenn du mit der Schule fertig bist, musst du dir eine Arbeit suchen und hier wegziehen. Das musst du mir versprechen.“ Helma war geschockt, er wollte sie los sein, sie sollte weg von Mama, Papa und ihm. Das machte sie furchtbar traurig und sie konnte mit niemandem darüber sprechen, nicht einmal mit Mama, denn er war ja Mamas Liebling. Er war so klug und immer, immer hatte er recht. Und sie war ja nur das kleine dumme Helmchen. Wie sie es hasste, wenn ihre Mutter Helmchen zu ihr sagte. Na gut, sie würde gehen, wenn sie groß war, aber es tat ihr furchtbar weh, dass es selbstverständlich war, dass Konrad zu Hause bleiben durfte und sie nur auf Zeit hier geduldet war. Doch ihre trüben Gedanken hielten Gott sei Dank nicht lange an. Sie hatte die Gabe, in jeder Situation das Gute zu sehen. „Dann verlass ich Niederbach wenn ich groß bin, geh in die Welt und werde Fremdenlegionär,“ nahm sie sich vor.


Elises Freundschaft mit Anna Watzlav vertiefte sich in diesen Jahren. Und auch Oma und Elisabeth bemühten sich, dieser schüchternen, bescheidenen Frau zu helfen, wo es ihnen möglich war. Sie kannten jetzt die Gründe für Annas seltsames Verhalten, denn während eines Manövers der amerikanischen Soldaten in Niederbach, hatte Anna, bedingt durch den Anblick der bewaffneten Soldaten, die um die Häuser schlichen, einen heftigen Angstanfall durchlebt. Und dieser neue Schock bewirkte, dass sie sich den Frauen anvertraute und zum ersten Mal über die schrecklichen Erlebnisse der Vertreibung und der Trennung von ihrem Sohn sprechen konnte. Und während Anna sprach und noch einmal alles Schreckliche durchlebte, sahen die drei Frauen das Geschehen vor ihren geistigen Augen und durchlitten es mit ihr.



Anna und Berthold

In Mittelwaldee, einem kleinen Ort etwa 10 km nördlich des Städtchens NeuMittelwaldee, wurde am frühen Morgen des 14. Juli 1945, Anna Watzlav durch heftige Schläge gegen die Tür ihres Hauses geweckt. Sofort fing ihr Dackel Hexie an wie verrückt zu bellen. Sie rief ihn zur Ruhe, knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr, es war fünf Uhr morgens. Ihr kleiner Sohn, sechs Jahre alt, hatte sich in seinem Bett aufgerichtet und fragte ganz verschlafen und verwirrt: „Was ist Mama, wer klopft da?“ „Schlaf nur weiter Berthold, ich schau nach, wer da etwas von uns will, zu so früher Stunde,“ sagte Anna. Sie zog schnell ihren geblümten Morgenmantel über, schlüpfte in die Hausschuhe, strich ihre hellblonden Haare aus dem Gesicht und lief die Treppe hinunter zur Haustür. Dort öffnete sie das kleine, vergitterte Fensterchen neben der Tür und rief hinaus: „Wer ist da?“ „Öffnen sie die Tür, Frau Doktor,“ sie erkannte die Stimme Josefs, der als Kutscher auf dem Gutshof arbeitete und ein Freund der Familie war.

D
er Gutshof grenzte an ihren Garten und sie pflegte eine gute Nachbarschaft mit den Leuten vom Gut. Ihr Mann war Arzt und so kannte sie eigentlich alle Einwohner dieses kleinen Ortes nahe der polnischen Grenze. Der Kutscher war ein Pole, ein sehr netter älterer Mann, der ihr bei allen schweren Arbeiten half, seit ihr Mann erst an der Front und jetzt in englischer Gefangenschaft war. „Hoffentlich ist nichts mit Theresa, Josefs Frau passiert,“ dachte Anna, während sie die Haustür aufschloss. Draußen standen neben Josef zwei fremde Männer, ein jüngerer, vielleicht Anfang Zwanzig und ein etwa Vierzigjähriger. Sie hatten beide das Gewehr im Anschlag auf sie gerichtet. Anna erschrak furchtbar und die Angst ließ sie zittern. Was war hier los, warum tat Josef so fremd? Und was wollten diese fremden Männer mit den Gewehren? Sollte sie verhaftet werden? Wieso? Sie sah Josef fragend an, dem es sichtlich unangenehm war, dass er die nette kleine Frau Doktor, wie er sie nannte, so überfallen musste.

A
ußerdem hatte er Angst, dass seine Begleiter merken könnten, welch vertrautes Verhältnis er zu dieser Deutschen hatte. Die zierliche, hübsche Frau und ihr kleiner blonder Sohn, waren für ihn und seine Frau wie Tochter und Enkel. Doch so etwas war ab dem heutigen Tag verboten. Die Deutschen waren Feinde, ab heute gehörte auch Mittelwaldee den Polen und die deutsche Bevölkerung sollte vertrieben werden. Das galt auch für seinen Chef, den Gutsherren, für den Josef all die Jahre sehr gern gearbeitet hatte. Aber er war jetzt nicht mehr der Kutscher Josef, nein, er war hier als Polnischer Besatzer, der einen Sonderbefehl der Polnischen Regierung ausführte. Aber er tat das nicht freiwillig. Er hatte selbst Angst vor der Unberechenbarkeit seiner beiden Begleiter, die aus ihrem Hass auf die Deutschen und auf alle, die mit den Deutschen kooperierten, keinen Hehl machten. Was nach den bitteren Erfahrungen, die Polen mit den Deutschen seit dem 01. September 1939 gemacht hatte, kein Wunder war.

D
ieser brutale Überfall, mit dem der 2. Weltkrieg begann, hatte so viele Polen das Leben gekostet. Die Überlebenden waren als Kriegsgefangene und Menschen zweiter Klasse gedemütigt worden, man hatte ihnen ihr Land und ihren Stolz genommen, und dafür rächten sie sich jetzt. Josef arbeitete schon viele Jahre auf dem Gut, schon vor dem Krieg. Und der Gutsbesitzer hatte ihn auch nach Ausbruch des Krieges nicht anders behandelt, als vorher. Er wurde gut bezahlt, von der Familie geachtet und hatte nie das Gefühl gehabt, er arbeite für den Feind. Im Gegenteil, er hegte eine tiefe Zuneigung zur Familie des Gutsbesitzers, wie auch zu Anna, ihrem Mann und ihrem Sohn. Was auf Gegenseitigkeit beruhte. Doch jetzt konnte dieses gute Verhältnis für Josef und seine Frau gefährlich werden. Nachdem die Deutschen den 2.Weltkrieg verloren hatten, übernahmen die Alliierten am 05.06.1945 offiziell die oberste Regierungsgewalt. Die Ostgebiete bis zu den Flüssen Oder und Neiße wurden den Polen zur Verwaltung übergeben. Und die polnische Regierung hatte nun die Vertreibung der Deutschen Bevölkerung angeordnet.

Josef reichte Anna ein ziemlich verknittertes und verschmiertes Blatt Papier. „Lesen Sie, Frau Doktor,“ sagte er. Es war ein Sonderbefehl für die deutsche Bevölkerung des Ortes:
1. Am 14. Juli 1945 ab 6 Uhr, wird eine Umsiedlung der Deutschen Bevölkerung stattfinden.
2. Die deutsche Bevölkerung wird in das Gebiet westlich der Flüsse Oder-Neiße umgesiedelt.
3. Jeder Deutsche darf höchstens 20 kg Reisegepäck mitnehmen.
4. Kein Transportmittel (Wagen, Ochsen, Pferde, Kühe usw.) wird erlaubt.
5. Das ganze lebendige und tote Inventar, in unbeschädigtem Zustand, bleibt als Eigentum der polnischen Regierung zurück.
6. Die letzte Umsiedlungsfrist läuft am 14. Juli, 10 Uhr ab.
7. Die Nichtausführung des Befehls wird mit schärfsten
Strafen verfolgt, einschließlich Waffengebrauch.

Entsetzt ließ Anna das Blatt sinken, nachdem sie es durchgelesen hatte. Sie gab es Josef zurück, wollte ihm gerade eine Frage stellen, da sagte er unnatürlich laut und schnell: „Frau Anna Watzlav, sie haben sich mit ihrem Sohn und dem Gepäck in spätestens drei Stunden am Rathausplatz einzufinden,“ dann wandte er sich zu den Soldaten und zeigte zum nächsten Haus. Als die beiden sich umdrehten, um dorthin zu gehen, flüsterte er ihr zu: „Meine Frau kommt gleich rüber,“ und folgte ihnen. Anna schloss die Tür, ihr Herz raste, was sollte sie einpacken, wie sollte sie Berthold beibringen, dass er seinen Hund nicht würde mitnehmen können?


(wird fortgesetzt)

Artikel vom 18.11.2006