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»Unterschicht« unerwünscht

Begriff in den Parteien ebenso umstritten wie Inhalte der Sozialpolitik

Berlin (dpa). Die Diskussion über ein angebliches »Unterschichten-Problem« hat bei den Sozialdemokraten eine kontroverse Debatte über Folgen und Verantwortlichkeiten der Sozialpolitik ausgelöst.

Die Union will sich zusammen mit dem Koalitionspartner für eine effektive Förderungspolitik einsetzen, lehnt den von SPD-Chef Kurt Beck ins Gespräch gebrachten Begriff aber als stigmatisierend ab.
Der familienpolitische Sprecher der Union im Bundestag, Johannes Singhammer (CSU), warnte vor einer »Verengung der Debatte« und unterstellte der SPD taktische Interessen. »Es ist richtig, dass sich eine wachsende Zahl von Menschen in Deutschland als Verlierer betrachten. Das ist aber nicht auf eine untere Schicht begrenzt. Es gibt auch eine große Mittelschicht, die sich in einer ähnlich schwierigen Situation sieht.« Der SPD warf der CSU-Politiker vor, sie führe »eine strategisch angelegte Debatte, um der Konkurrenz im linken Bereich, besonders der PDS, das Wasser abzugraben«.
Auslöser der neuen Debatte war eine noch unveröffentlichte Studie der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung, in der der Begriff »Unterschicht« allerdings gar nicht vorkommt. In einem Interview hatte Beck schon vor einer Woche gesagt, Deutschland habe ein zunehmendes Problem, »manche nennen es Unterschichten-Problem«.
In der Stiftungs-Studie heißt es unter anderem, acht Prozent der Bevölkerung befänden sich in unsicheren Arbeitsverhältnissen, einer prekären Lebenslage sowie sozialer Lethargie. In Ostdeutschland gehöre sogar jeder Fünfte zu dieser Personengruppe.
Die CDU-Vorsitzende und Kanzlerin Angela Merkel mahnte mehr gesellschaftliche Verantwortung aller Bürger an. Die Regierung wolle mit ihrer Familienpolitik erreichen, dass Kinder früher gefördert werden und damit später auch Berufs- und Aufstiegschancen erhalten. Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) wies den Begriff »Unterschicht« zurück. »Es gibt keine Schichten in Deutschland. Es gibt Menschen, die es schwerer haben, die schwächer sind. Das ist nicht neu. Aber ich wehre mich gegen die Einteilung der Gesellschaft.«
Nach Beratungen des SPD-Präsidiums gestern in Berlin, widersprach Generalsekretär Hubertus Heil Vorwürfen aus Reihen der SPD-Linken, wonach die Arbeitsmarktgesetze der alten rot-grünen Bundesregierung für die Fehlentwicklungen verantwortlich seien.
Deutschland liegt nach einer Studie zur sozialen Lage in der Europäischen Union in einer Länder-Rangliste weit hinten. Nach der gestern veröffentlichten Untersuchung des Vereins berlinpolis, die von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung unterstützt wurde, kommt Deutschland insgesamt nur auf Platz 21 von 24.
Sozialdemokraten vom linken Flügel nahmen die Zahlen zum Anlass, die Wirtschafts- und Sozialpolitik der vergangenen Jahre zu kritisieren. Hartz IV sei eine »Lebenslüge«, sagte SPD-Fraktionsvize Stefan Hilsberg. Schröder habe zu kurz gedacht.
Der Kinderschutzbund begrüßte die Debatte. »Dass die Politik das als Problem erkannt hat, ist erfreulich«, sagte Kinderschutzpräsident Heinz Hilgers.
S.4: Pressestimmen / Hintergrund

Artikel vom 17.10.2006