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»Ein unglaublicher Vorgang«

Zusatzbelastungen für Krebskranke überschattet die Reform-Anhörung

Berlin (dpa). Heftiger Streit über mögliche Zusatzbelastungen für künftige Krebspatienten und andere Schwerkranke hat die erste offizielle Anhörung zur Gesundheitsreform gestern überschattet.

FDP-Generalsekretär Dirk Niebel nannte die Pläne »abgrundtief unanständig« und kündigte eine Aktuelle Stunde im Bundestag an. SPD-Vize Elke Ferner zeigte sich offen für Änderungen. Für DAK-Chef Herbert Rebscher ist es »ein unglaublicher Vorgang«, wie dieser Punkt in den Entwurf geschrieben wurde. Grünen-Chefin Claudia Roth wandte sich gegen »Malussysteme für Menschen, die an schweren Krankheiten leiden oder gar mit dem Tod ringen«.
SPD-Generalsekretär Hubertus Heil versicherte, chronisch Kranke würden durch die Pläne nicht stärker belastet. Das Gesundheitsministerium verteidigte die entsprechenden Passagen im Reformentwurf.
Nach dem Boykott der Anhörung durch die wichtigsten Ärzte-, Klinik- und Kassenverbände wurde die Gesundheitsreform von weiteren Experten scharf kritisiert. Die zentralen Verbände hatten ihre Teilnahme an der vom Ministerium organisierten Runde abgesagt, weil zu wenig Zeit für die Vorbereitung gewesen sei. Der Abteilungsleiter Krankenversicherung im Ministerium, Franz Knieps, sagte, er habe kein Verständnis dafür.
Bei den Beratungen zeichneten sich keine wesentlichen Änderungen an den Koalitionsplänen ab.
Schwerkranke sollen bei Medikamenten und Hilfsmitteln künftig nicht nur ein, sondern zwei Prozent der jährlichen Bruttoeinnahmen zum Lebensunterhalt zahlen müssen - wenn sie bestimmte Untersuchungen vor der Erkrankung nicht regelmäßig in Anspruch genommen haben. »Wir fördern die Krebsvorsorge und die Wahrnehmung von Vorsorgeuntersuchungen dadurch, dass sich das auch lohnt«, sagte eine Ministeriumssprecherin. SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach sagte, mittelfristig seien damit Einsparungen von mehr als 1,5 Milliarden Euro im Jahr möglich.
SPD-Vize Ferner betonte, darüber werde man sicher in der parlamentarischen Anhörung nochmal diskutieren müssen. Sie hatte die Reform mit ausgehandelt. Niebel kritisierte: »Man kann doch nicht so tun, als sei eine Krebserkrankung so ähnlich, als hätte man morgens nicht regelmäßig seine Zähne geputzt.« Die Deutsche Krebsgesellschaft dringt auf bessere Früherkennung, warnte aber davor, Krebspatienten zum Faustpfand dafür zu machen. Nur ein Fünftel der Männer und knapp die Hälfte der Frauen hätten 2003 die gesetzlichen Möglichkeiten zur Früherkennung genutzt.
Heil sagte nach einer Sitzung der SPD-Spitze, man sei sich einig, dass chronisch Kranke auch künftig nicht stärker belastet werden sollen. Es bleibe aber bei den Vereinbarungen. Betroffen von einer möglichen Anhebung der Zuzahlungsgrenze sind Frauen, die zum geplanten Reformstart am 1. April kommenden Jahres 20 Jahre oder jünger sind, und Männer, die dann 35 oder jünger sind.
Das Ministerium hatte den Gesetzentwurf mit mehr als 500 Seiten am Donnerstag veröffentlicht. Der Vorstandschef des BKK Bundesverbandes, Wolfgang Schmeinck, sagte: »Sich als Ministerium mit den einzelnen Gesprächspartnern über ein 542-Seiten-Gesetz in nur fünf Minuten austauschen zu wollen, ist keine Anhörung, sondern bestenfalls eine Alibi-Veranstaltung.«
Für Streit sorgte zudem die möglichen Zusatzbeiträge der Versicherten an die Krankenkassen. Die gesundheitspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Birgitt Bender, kritisierte: »Was ist das für eine Koalition, die den Ärmsten am meisten abverlangt?« Der Gesundheitsexperte des Bundesverbands der Verbraucherzentralen, Stefan Etgeton, warnte vor Ungerechtigkeiten. Über das Reformgesetz wird heute erstmals in den Bundestagsfraktionen von Union und SPD beraten werden. Am 25. Oktober will das Kabinett die Reform beschließen.

Artikel vom 17.10.2006