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Der hatte ihn voller Mitgefühl angesehen und gesagt: „Natürlich können sie ihre Kleine sehen, sie schläft, wir mussten ihr ein stärkeres Beruhigungsmittel geben, nachdem sie bemerkt hatte, dass ihr Bruder nicht mehr in dem Bett neben ihr lag. Aufregung und Weinen schwächen den kleinen Körper zu sehr. Ruhe ist das allerwichtigste für den Heilungsprozess. Aber nach Hause können sie die Kleine auf keinen Fall mitnehmen, sie würde das nicht überleben.“ Er war dann mit ihm zur Tür und durch mehrere Gänge, bis zum Krankenzimmer in dem Wilma lag, gegangen. Und dort hatte er durch die gleiche Glasscheibe auf sein Kind blicken dürfen, wie am Tag zuvor Elise. Wilma hatte die Augen geschlossen, ihr Gesichtchen war so blass und durchsichtig, dass Wilhelm sich schon bald abgewandt hatte, weil ihm der Anblick seiner Tochter und seine Ohnmacht, ihr nicht helfen zu können, so furchtbar weh tat, dass er es nicht ertragen konnte. Der Oberarzt hatte ihn dann an die Schulter gefasst und gesagt: „Kommen sie, Herr Trebeis, ich bringe sie zum Ausgang, fahren sie nach Hause, ihre Frau wird sie an ihrer Seite brauchen und ihre anderen Kinder auch.“

Schweren Herzens war Wilhelm mit ihm zum Ausgang gegangen und hatte sich dort von dem Arzt verabschiedet. Und jetzt saß er hier im Bahnhof und wartete auf seinen Zug nach Hause. Jetzt wo es zu spät war, fielen ihm plötzlich Situationen ein, in denen sie sich gewundert hatten, wieso Heinrich seit dem Sommer immer so müde und blass gewesen war. Er hatte oft nur schlafen wollen. Den Sportunterricht, den er zu Beginn seiner Schulzeit im April so geliebt hatte, konnte er plötzlich nicht mehr mitmachen, weil er so kurzatmig war und ihm nach der geringsten Anstrengung schlecht wurde. Ihr Hausarzt hatte gemeint, das hinge wohl mit den ungewohnten Anstrengungen der Schule und mit seinem schnellen Wachstum zusammen. Sie sollten sich keine Sorgen machen, das würde wieder vergehen. Nicht alle Kinder verkrafteten den Eintritt in das Schulalter und die Wachstumsphasen gleich. Heinrich sei halt besonders sensibel und zart. „Sensibel und zart, Wachstumsphase, ha, keine Ahnung hatte er, nicht richtig untersucht hat er ihn, dieser Pfuscher,“ murmelte Wilhelm zornig vor sich hin. Der Zorn tat ihm gut, wirkte wie ein Ventil für den aufgestauten Schmerz. Und er beschloss, in Zukunft einen anderen Arzt aufzusuchen, sollte eines der Kinder oder irgend ein Familienmitglied krank werden. Endlich lief sein Zug ein, er war nicht sehr voll, so dass Wilhelm ein Abteil für sich allein hatte. Er hängte seine Jacke auf, versteckte sein Gesicht darin und weinte lautlos vor sich hin.

Zu Hause angekommen, traf er seinen Schwiegervater an, der ihn wortlos umarmte. Er versprach Wilhelm, dass er im Wechsel mit seiner Tochter Luise, Elises Schwester, jeden zweiten Tag käme, um nach Elise zu sehen, so dass trotz der vielen Arbeit auf dem Hof immer jemand bei ihr wäre. Auch er war der Meinung, dass man sie auf keinen Fall allein lassen durfte, da durchaus die Gefahr bestand, dass sie sich etwas antun würde. Der Arzt war inzwischen da gewesen und hatte Elise ein starkes Beruhigungsmittel gegeben. Allerdings hatte ihr Vater sie überreden müssen, denn sie reagierte sehr aggressiv auf ihren Hausarzt. Als dieser nach Helma hatte sehen wollen, weil er um sie besorgt war, hatte Elise ihn angeschrieen: „Gehen sie weg, lassen sie mein Kind in Ruhe, sie nehmen mir kein Kind mehr weg.“ Oma meinte, sie sei sicher gewesen, wenn er es gewagt hätte, Helma anzufassen, hätte sich Elise auf ihn gestürzt, wie wahnsinnig hätte sie sich gebärdet. „Elise hat recht, der Doktor ist heute das letzte Mal auf dem Hof gewesen. Wir suchen uns einen anderen Hausarzt,“ antwortete Wilhelm. Er wusste auch schon wen. Vor einigen Wochen hatte er gehört, dass der Arzt, der nahe der Bahnstation in Raumrode wohnte, gute Kontakte zu den Amerikanern hätte. Wilhelm wollte ihn gleich morgen aufsuchen, vielleicht könnte dieser Arzt ja dieses neue Medikament, welches Wilma so dringend brauchte, von den Amerikanern bekommen. Dieser Entschluss gab ihm irgendwie Hoffnung.

Doch jetzt musste er seiner Frau erklären, warum er allein wiedergekommen war. Elise nahm seine Worte teilnahmslos auf, sie lag in ihrem Bett und hatte wieder das Kopfkissen von Heinrich an sich gepresst. Wilhelm merkte, dass seine Worte nicht in Elises Bewusstsein drangen, sie war ganz weit weg. Die Medikamente hüllten sie in einen schützenden Nebel. Und wieder wünschte sich Wilhelm für einen Moment, auch in so einen Nebel abtauchen zu können und die Wirklichkeit zu vergessen. Aber er musste jetzt doppelt stark sein, seine Kinder, die Familie und der Hof brauchten ihn, und Elise, besonders sie. Er zog sich wieder für die Arbeit um, ging hinunter und bat seine Mutter, bei Elise zu wachen. Sein Vater konnte auf Helma aufpassen und Konrad nahm er mit in den Stall. Die tägliche Routine der Stallarbeit fing ihn auf, er tat Elises Arbeit mit und fühlte, wie gut ihm die körperliche Anstrengung tat. Dem kleinen Konrad drückte er einen Besen in die Hand und ließ ihn den Mittelgang des Stalles kehren. Der Besen war viel zu groß für den kleinen Kerl, aber Konrad kämpfte so lange mit dem Besenstiel, bis er ihn irgendwie beherrschte und stolz zu kehren versuchte. Der Anblick seines Sohnes, der sich bemühte, seine Sache gut zu machen, tat Wilhelm gut und zum ersten mal seit man ihm den Tod seines ältesten Sohnes mitgeteilt hatte, huschte so etwas wie ein Lächeln über sein Gesicht.

Die Tage vergingen in Trauer, Heinrich wurde nach Hause gebracht und Elise stürzte der Anblick ihres toten Sohnes erneut in eine so tiefe Verzweiflung, dass Wilhelm von der Post aus Doktor Tonne, den neuen Hausarzt anrief. Der Doktor, der ein Auto besaß, war sofort gekommen und hatte Elise ein starkes Beruhigungsmittel gegeben. Auch zwei Tage später, dem Tag, an dem Heinrich beerdigt werden sollte, kam er früh morgens und gab Elise eine Spritze, nach der sie schnell in einen tiefen Schlaf fiel, sodass sie nichts von den Trauerfeierlichkeiten im Haus mitbekam. Heinrich war noch zwei Tage im Wohnzimmer aufgebahrt gewesen und jetzt trugen vier junge Männer aus dem Ort den weißen Kindersarg auf ihren Schultern hinter dem Pfarrer her zum Friedhof. Dahinter ging die Familie, ihr folgte ein langer Trauerzug.

W
enigstens ein Mitglied aus jeder Familie des kleinen Dorfes ging mit, um dem kleinen Heinrich die letzte Ehre zu erweisen und der Familie Trebeis ihr Mitgefühl zu zeigen. Als der Sarg des kleinen Heinrich in die Erde gelassen wurde, konnten viele ihre Tränen nicht mehr zurückhalten und man hörte auch die Männer schluchzen. Die meisten von ihnen waren im Krieg gewesen und hatten so manchen Kameraden sterben sehen, doch war der Tod dieses sechsjährigen Jungen, der doch erst am Beginn seines Lebens stand, für alle unbegreiflich und schmerzlich. Und das Mitgefühl mit Elise, Wilhelm und der ganzen Familie war sehr groß. Nach der Beerdigung gingen nur die engsten Verwandten mit zum Hof, saßen in der Stube noch bei Kaffee und Streuselkuchen zusammen und gedachten des kleinen Heinrichs. Sie erinnerten sich an seine Streiche und fast jeder wusste eine nette kleine Geschichte zu erzählen, die er mit Heinrich erlebt hatte. Doch als es Zeit für die Stallarbeit war, verabschiedeten sich alle. Und die Familie war mit ihrer Trauer wieder allein.

Wilhelm zog sich um und wollte eben mit dem Melkeimer in der Hand vom Haus zum Stall gehen, da sah er, wie Annemarie Hecke zögernd in die Hofeinfahrt kam und seinen Namen rief: „Herr Trebeis, wartet, ich muss euch etwas bestellen.“ Wilhelm drehte sich zu ihr um, warf den Melkeimer weit von sich und rief so laut er konnte mit verzweifelter Stimme: „Geh weg, Annemarie geh weg, komm nicht hierher.“ Er wusste, dass der Besuch Annemaries bedeutete, dass auch Wilma gestorben war. Annemarie hätte alles darum gegeben, wenn sie nicht hierher hätte gehen müssen. Aber ihre Mutter, die auch auf Heinrichs Beerdigung gewesen war, hatte nach dem Anruf von der Klinik in Marburg nur noch weinend in der Küche gesessen. Sie hatte dann gesagt: „Du musst zu Trebeiss gehen, Annemarie, ich schaffe das nicht noch einmal, ich kann das nicht. Bitte Kind, sag Du dem Wilhelm Trebeis, dass er herkommen und anrufen soll, ich kann das nicht noch einmal tun.“ Und so war Annemarie losgegangen, um Wilhelm Trebeis zu sagen, dass er die Kinderklinik anrufen solle. Den Anblick dieses verzweifelten Mannes würde sie ihr Leben lang nicht vergessen: Wie er sie mit den Händen hatte verscheuchen wollen, das Scheppern des Melkeimers auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes, sein sich zusammenkrümmender Körper und dann diese verzweifelte Stimme. Trotzdem hatte sie ihren Auftrag erfüllt und ihm zugerufen, dass er das Krankenhaus anrufen solle. Er hatte nur genickt und sie war schnell wieder nach Hause gelaufen. Wilhelm spürte einen furchtbaren Schmerz in der Magengegend, als hätte er einen scharfkantigen Eisbrocken verschluckt, so schmerzhaft und kalt fühlte es sich an. Er drückte beide Hände fest auf seinen Magen und schleppt sich ins Haus und in die Küche.(wird fortgesetzt)

Artikel vom 10.11.2006