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Langsamer Literatur-Tanz im Kreis

Heimweh: Isabel Allendes »Mein erfundenes Land« ist jetzt übersetzt

Von Bernhard Hertlein
Santiago (WB). Isabel Allendes vor drei Jahren erschienenes Buch »Mein erfundenes Land«, seit kurzem ins Deutsche übertragen, ist kein Roman, aber auch kein Sachbuch. Es ist wie Heimweh: ein literarischer langsamer Tanz im Kreis.
Wanderung durch ein Haus: Isabel Allende.

Die Erinnerungen der chilenischen Schriftstellerin (64), die als Tochter eines Diplomaten in Peru geboren wurde und heute in den USA lebt, sind wechselhaft und flüchtig und folgen keiner chronologischen Reihenfolge. Der Leser wandert über die Seiten wie durch ein Haus, in dem jeder Raum voller Geheimnisse und Wahrheiten steckt.
Jene, die sich schon in Allendes Romanen (Geisterhaus, Von Liebe und Schatten, Eva Luna, Portrait in Sepia) verloren haben, werden vieles wiederfinden: Ort und Menschen, Geister und Träume. Einflüsse werden deutlich - etwa der von Allendes Großmutter, die in spiritistischen Sitzungen mit den toten Verwandten konferierte. Der des Großvaters, mit dem sie in und nach der Pubertät endlose Wortgefechte austrug. Der des Onkels, der ihr die literatische Welt aufschloss. Der Mutter, mit der sie sich endlose Briefe schrieb. Mit der deutschstämmigen Matrone, die der Großvater nach dem Tod der ersten Frau ehelichte. Des Onkels, der in Indien die Erleuchtung fand und sie -Êuntermalt von Leierkastenmusik -Êin Chile auf der Straße verkündete.
Isabel Allende schreibt selbst: »WerÊeine Familie wie die meine hat, der braucht keine Phantasie.« Das ist untertrieben. Aber er braucht auf jeden Fall auch Mut, die Anstöße aus der Familie öffentlich zu machen. Dass sie gerne Dinge ausplaudert, hat ihr schon manchen in der Verwandschaft zum Feind gemacht. Mit dem neuen Buch kommen sicher weitere hinzu, obwohl die Indiskretionen, die sich die Schriftstellerin leistet, in einem höheren Dienst stehen. Das Buch ist trotz aller Kritik an den Landsleuten eine Liebeserklärung an das Land, in dem sie zwar deutlich weniger als die Hälfte ihres bisherigen Lebens zugebracht hat, das aber immer ihr Dreh- und Angelpunkt bliebt.
Eine zweite Heimat ist nach dem 11. September 2001 hinzugekommen. Seit den Anschlägen auf das World Trade Center fühlt sich Allende als Amerikanerin -Êgleichermaßen zu Hause im Norden und im Süden des Kontinents. So fühlt sich an jedem 11. September auch die Erinnerung an einen anderen Schicksalstag: 1973 begann an diesem Tag der Militärputsch gegen die Regierung ihres Großonkels Salvadore Allende.
Isabel Allende: Mein erfundendes Land, 205 Seiten, Verlag Suhrkamp, 16,80 Euro.

Artikel vom 26.10.2006