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Er schnallte sich den Gurt mit den Karabinern, Flachbändern und Klemmkeilen um, probierte zwei Helme aus, fand einen passenden und zurrte ihn fest. Er warf Kate einen Blick zu. Ihr Gesicht war starr vor Angst, doch sie schwieg. Er fragte sich, ob sie am liebsten sagen würde: Sie müssen das nicht machen, ich befehle es Ihnen nicht. Er wusste, sie würde sich ihrer eigenen Verantwortung entziehen, wenn sie ihm derart die Last der Entscheidung zuspielte. Sie konnte ihn davon abhalten, aber sie konnte ihm nicht befehlen zu klettern. Er wusste selbst nicht, warum er so froh darüber war. Jetzt nahm sie einen Beweismittelbeutel und ein Paar Plastikhandschuhe aus ihrem Koffer und reichte sie ihm. Ohne ein Wort schob er sie in seine Hosentasche.

E
r stand dabei, als Jago noch einmal überprüfte, ob die Bänder um den Felsbrocken auch fest saßen und dann das Seil in den Karabiner an seiner Taille einhakte. Es fiel ihm alles wieder ein: das Seil über die rechte Schulter und um den Rücken legen. Keiner von ihnen sagte etwas. Er erinnerte sich, dass diese routinemäßigen Vorbereitungen beim Klettern immer schweigend erfolgt waren, ein förmliches, zielgerichtetes Aufbieten von Mut und Entschlusskraft. Fast, so dachte er, als wäre sein Großvater ein geweihter Priester und er der Novize gewesen, die gemeinsam wortlos einen altvertrauten heiligen Ritus vollzogen. Jago hingegen war als Priester denkbar ungeeignet. Benton sagte sich in dem Versuch, seine Angst mit sarkastischem Humor zu vertreiben, dass er, Benton, wohl eher Aussichten hatte, als Opfertier zu enden.

E
r trat an den äußersten Rand der Klippe, setzte die Füße fest auf und lehnte sich rückwärts ins Leere. Das war der Augenblick der Hingabe, und mit ihm kam die vertraute Mischung aus Panik und Euphorie. Wenn das Seil nicht gut gesichert war, würde er rund fünfundzwanzig Meter in den sicheren Tod stürzen. Das Seil straffte sich und hielt. Als er fast horizontal hing, hob er eine Sekunde lang den Blick zum Himmel. Die Wolken rasten in einem Wirbel aus Weiß und Blassblau dahin, und unter ihm krachte das Meer in gnadenlosen Schallwellen gegen den Felsen, und ihm war, als hörte er sie zum ersten Mal. Doch jetzt war alles leicht und einfach, und nach über zehn Jahren spürte er wieder ein wenig von der Begeisterung seiner Kindheit, als er in weiten Sprüngen an der Felswand hinunterglitt, mit der linken Hand das Seil hinter dem Rücken kontrollierend, die rechte am Seil vor sich. Er spürte, wie es durch den Karabiner glitt, und er wusste, dass er es schaffen würde.

S
eine Füße setzten auf dem Boden auf. Er machte sich schnell los und rief, dass er unten war. Sofort streifte er sich die Plastikhandschuhe über und ließ den Blick über den schmalen, vom Meer geglätteten Streifen aus Steinen und Kiesel wandern. Er überlegte, wo er anfangen sollte. Die Flut stieg schnell, strömte schon über die glatten Buckel der vordersten Felsen, floss in die tiefen Steintümpel, kam näher und wich kurz wieder zurück, um trügerische Flächen aus rundlichen Steinen und messerscharfen glänzenden Granitplatten freizugeben. Die Zeit arbeitete gegen ihn. Mit jeder neuen Welle verengte sich der Bereich, den er absuchen konnte. Die Augen auf den Boden gerichtet, arbeitete er sich in der Hocke vorsichtig Meter für Meter vor. Er wusste, wonach er suchte: ein schwerer Stein, klein genug, um ihn in einer Hand zu halten, ein Todeswerkzeug, an dem sich mit ein bisschen Glück noch Blutspuren befanden. Mit jedem Meter wurde ihm das Herz schwerer. Allein auf diesem schmalen Uferstreifen lagen Tausende von Steinen, viele von ihnen hatten die richtige Größe, das richtige Gewicht, und die meisten waren über die Jahrhunderte hinweg vom Meer glatt poliert. Er vergeudete nur seine Zeit mit dieser vergeblichen Suche, und anschließend würde er auch noch die Felswand hochklettern müssen.
Minuten vergingen, und seine Hoffnung sank. Die Euphorie des Abseilens war vergessen. Er stellte sich vor, wie Kate oben auf den Jubel wartete, der seinen Erfolg verkündete. Stattdessen würde er nur Jago zurufen, dass es auch für ihn an der Zeit war, sich abzuseilen.

U
nd dann sah er dicht am Fuße der Wand etwas, das ganz sicher nicht an diesen unberührten Uferabschnitt gehörte: irgendein heller, flatternder Fetzen Abfall. Als er näher kam und erkannte, was es war, hätte er am liebsten die Arme in die Luft gereckt und einen Triumphschrei ausgestoßen. Vor ihm lag ein eiförmiger Stein, der halb von den Überresten eines Chirurgenhandschuhs umschlossen wurde. Der größte Teil des dünnen Latexmaterials war wohl beim Aufprall zerrissen und von den Wellen der Ebbe fortgeschwemmt worden, aber ein Finger und ein kleiner Teil der Handfläche waren noch intakt. Behutsam hob er den Stein auf und nahm die Oberfläche in Augenschein. Die rötlichen Flecken darauf schienen nicht zum Stein zu gehören, konnten eigentlich nur Blut sein. Es war bestimmt Blut. Es musste Blut sein.

E
r schob seinen Fund in den Beweismittelbeutel, verschloss ihn und stolperte hastig zu dem Kletterseil zurück. Als er den Beutel daran festgebunden hatte, legte er beide Hände trichterförmig um den Mund und rief voller Stolz nach oben: »Ich hab ihn! Hochziehen!«

E
in kurzer Blick nach oben, zeigte ihm Kates Gesicht, das zu ihm herabspähte. Sie winkte mit einer Hand, und das Seil mit dem Päckchen daran wurde emporgewirbelt, schlug sachte gegen die Felswand.
Fast im selben Moment senkte es sich wieder, Jago kam wie im freien Fall heruntergesaust, wobei sein stämmiger Körper die Klippe entlangzutanzen schien. Unten angekommen klinkte er sich aus und zog mit einem Ruck an dem Seil. Es fiel herab und landete in Spiralen auf dem Boden. Er erklärte: »Die Kletterroute beginnt nur dreißig Meter von hier, hinter diesem vorgelagerten Felsen. Ich werde Sie sichern.«
Die zerklüftete Klippenwand ragte über ihnen auf. Die Brandung umspülte bereits ihre Füße.

J
ago sagte: »Sie können vorsteigen. Wenn Sie Tatra gemacht haben, dürfte Ihnen das nicht schwer fallen. Die Route ist steil und ausgesetzt, aber an den schwierigen Stellen gut geschützt. Die Schlüsselstelle ist das Dach oben an der Spalte da. Da ist ein Kletterhaken. Hängen Sie sich unbedingt ein. Und keine Bange, es ist ein Überhang, also knallen Sie nicht gegen den Felsen, wenn Sie fallen.«
Benton hatte nicht erwartet, als Erster gehen zu müssen. Er dachte: Jago hat das von Anfang an geplant, dabei kennt er die Route in- und auswendig. Doch er war zu stolz, um über die Reihenfolge zu streiten, und auch damit hatte Jago sicherlich gerechnet. Benton machte einen Palstek am Ende des Seils und band es an seinen Klettergurt, während Jago einen großen Felsbrocken am Fuß der Route aussuchte, um sie beide zu sichern. Als er fertig war, hielt er das Seil fest und sagte: »Okay. Es kann losgehen.«

U
nd im selben Augenblick, wie um an die Unausweichlichkeit des Aufstiegs zu gemahnen, donnerte eine große Welle heran und riss sie fast von den Beinen. Benton kletterte los. Die ersten paar Meter waren nicht besonders schwierig, aber er überlegte genau, wo er sich festhielt oder die Füße aufsetzte, tastete nach Rissen im Fels, schob sich erst höher, wenn er einen guten Griff gefunden hatte. Nach etwa fünf Metern nahm er einen Klemmkeil aus der Gurttasche, schob ihn in einen Spalt und rüttelte so lange daran, bis er richtig saß. Er befestigte eine Schlinge daran, hängte das Seil ein und kletterte dann mit größerer Selbstsicherheit weiter. Die Wand wurde steiler, war aber noch immer fest und trocken. Er fand einen weiteren Spalt, schob wieder einen Klemmkeil mit Schlinge hinein.
Er war gut zehn Meter über dem Boden, als er - plötzlich und zu seinem großen Entsetzen - erstarrte, jede Sicherheit verloren hatte. Er hatte die Arme auf der Suche nach einem Griff zu weit ausgestreckt und hing jetzt flach an die Felswand gedrückt, die Schultern so überdehnt, dass es schon wehtat. Vor lauter Panik traute er sich nicht, den Fuß höher zu setzen, da er wackelig stand und fürchtete, sein Gleichgewicht zu verlieren. Die Wange gegen den Granit gepresst, der sich jetzt nass und eiskalt anfühlte, wurde ihm klar, dass das Gestein feucht von seinem Schweiß war. Von Jago war nichts zu hören, aber er erinnerte sich an die Stimme seines Großvaters, wie sie bei ihrer vierten gemeinsamen Klettertour zu ihm herabgerufen hatte: Das hier ist bloß Schwierigkeitsgrad sechs, also muss irgendwo ein Griff sein. Lass dir Zeit, Francis. Es geht nicht um Schnelligkeit. Und dann, nach einer halben Ewigkeit, wie ihm schien, obwohl das Ganze höchstens eine halbe Minute gedauert haben konnte, ließ die Verkrampfung in seinen Schultern nach. Zögernd schob er die rechte Hand höher und fand ein Stückchen weiter oben einen guten Griff, dann sichere Tritte für die Füße. Die Panik ebbte ab, und er wusste, sie würde nicht wiederkommen.

F
ünf Minuten später stieß sein Helm sachte gegen das überhängende Dach. Das war die Schlüsselstelle, ein Vorsprung aus rissigem, grün bewachsenem Granit. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 17.10.2006