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Was halten Sie denn von Grass?

Trotz Analphabetismus: In Indien ist das Interesse an Literatur sehr groß

Von Bernhard Hertlein
Frankfurt/Delhi (WB). Der Busfahrer geht nicht vom Gaspedal. Und auch nicht von der Hupe. Zum Glück gelingt es den Fußgängern und Rikschafahrern, noch rechtzeitig zur Seite zu springen. Da nähert sich frontal ein Lastwagen. Die Fahrer scheinen es darauf anzulegen: Wer ist stärker? Du -Êoder ich?
Einer der beiden Schriftsteller ist bereits Literatur-Nobelpreisträger: Günter Grass (r.) und Salman Rushdie.

Noch ein Mal geht es gut ab. Der Lkw-Fahrer erweist sich zum Glück als vernünftiger und macht Platz. Sekunden später stößt jemand den deutschen Besucher von der Seite an: »What do you think about Grass?« (Was halten Sie eigentlich von Günter Grass?)
Der Mann stellt sich als Beamter vor, der in der nahen indischen Distriktstadt arbeitet. Er hat die »Blechtrommel« gelesen und den »Butt«, und natürlich »Zunge zeigen« - das Buch, in dem Grass seinen Aufenthalt in Kalkutta verarbeitet hat. Er kennt auch Thomas Mann und selbstverständlich Hermann Hesse. Dessen Werke zählen zur Standardausstattung auch kleiner Bücherstände.
Die Bekanntschaft aus dem Überlandbus ist kein Einzelfall. In einem Land, in dem vier von zehn Einwohnern zu den Analphabeten gerechnet werden, ist das Interesse für Literatur riesig. Und nicht nur für die einheimischen Autoren . . .
Umgekehrt gibt es in Deutschland ebenfalls eine lange Tradition der Aufnahme indischer Literatur. In den zwanziger Jahren zog der bengalische Nobelpreisträger Rabindranath Tagore bei seinen drei Deutschland-Besuchen die Menschenmassen an. Jetzt, da Indien Gastland der Buchmesse 2006 ist, erscheinen seine Lyrik und Dramen unter dem Titel »Das goldene Boot« (Verlag Patmos, 24,90 Euro) in neuer Übersetzung.
Indische Schriftsteller sind im Westen länger wieder en vogue als die »Bollywood«-Filme. Allerdings leben die meisten bekannten Autoren nicht auf dem Subkontinent, sondern in London, USA oder wie Rohington Mistry in Kanada. So schreiben sie auch in Englisch und nicht in einer der 23 indischen Regionalsprachen. Bei der Angst hiesiger Verlage, Indologen für Übersetzungen bezahlen zu müssen, ist dies ein nicht zu überschätzender Vorteil.
Doch auch wenn die Schriftsteller nicht (mehr) in Indien leben, so fühlen sie sich dort über Familienkontakte etc. noch weitgehend zu Hause. Begonnen hat die angloindische Welle mit dem Roman »Mitternachtskinder« von Salman Rushdie - derselbe Rushdie, der für seine gar nicht satanischen Verse bis heute von Islamisten mit dem Tod bedroht wird. Allgegenwärtig ist ein Spruch des »Grande von Jahilia« aus dem Roman: Dass die Feder mächtiger sei als das Schwert, sei eine große Lüge. Mit seinem neuen Roman »Shalimar der Narr« kehrt Rushdie nach vielen Ausflügen in westliche Sujets wieder nach Indien -Êgenauer: nach Kaschmir -Êzurück.
Von den anderen Autoren haben Amitav Gosh (Glaspalast), Arunadhati Roy (Gott der kleinen Dinge), Vikram Seth (Eine gute Partie) und der erwähnte Mistry (Gleichgewicht der Welt) Welterfolge geschrieben. Hanif Kureishi (Buddha der Vorstadt) und Monica Ali (Brick Lane) stoßen mit ihren Büchern, in denen sie das Leben der pakistanischen bzw. bangladeschischen Exilanten beschreiben, dort nicht nur auf Gegenliebe. Gut gewürzt und doch leichtere Kost bieten viele andere Bücher, unter anderem von Chitra Banerjee Divakaruni und Anita Naïr.

Artikel vom 27.09.2006