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»Unvollendete« vollendet gespielt

Publikum vom neuen Chefdirigenten Andris Nelsons und der NWD begeistert

Herford (HK). Das erste Sinfoniekonzert unter der Leitung des neuen Chefdirigenten Andris Nelsons gestaltete sich zu einem Triumph für das Orchester und seinen Leiter. Mit lang anhaltendem Applaus forderten die begeisterten Konzertbesucher zum Ende des Konzerts den jungen Dirigenten immer wieder auf das Podium zurück.

Mit Spannung hatte man das Konzert erwartet, und so war am Freitag im Schützenhof kaum ein Platz frei geblieben. Franz Schuberts Sinfonie Nr. 6, die »Unvollendete«, bildete den ersten Teil des Programms, in gewisser Hinsicht ein Wagnis bei dem Bekanntheitsgrad dieses Stückes. Unwillkürlich vergleicht der Musikliebhaber die Wiedergabe mit der Interpretation, die er im Herzen trägt.
Doch wie gleichsam aus dem Nichts die Musik erwuchs, wie zart in den Celli die bekannte Melodie erblühte, als hörte man sie zum ersten Mal, wie schneidend dieses Traumbild von den kräftigen Einwürfen im Fortissimo durchbrochen wurde, all dies ließ die Interpretation zum Erlebnis werden. Zwei Welten begegneten sich in diesem Satz und setzten sich im zweiten fort. Von den Längen des Andante con moto, die Robert Schumann »himmlisch« nannte, verspürte man nichts. Der Dirigent sann den Klangebenen nach und ließ sie sprechen.
Die Intensität ließ nie nach und genau dies spürte man als Zuhörer. Die Wiedergabe durch das Orchester zeigte eine hohe Qualität im Klanglichen, und ob Bläser oder Streicher, das Zusammenspiel genügte in jeder Hinsicht hohen Ansprüchen. Schuberts Komposition ist eines der größten Geschenke an die Menschheit, und in dieser Interpretation gehört, ist sie ist alles andere als unvollendet, eine Fortsetzung kann man sich nicht vorstellen. Schon nach dieser Wiedergabe war der Beifall bemerkenswert und spannte die Erwartung, wie denn Mahlers erste Sinfonie gelingen wird.
Mahler musste lange auf Anerkennung warten, von heutiger Sicht fast unverständlich. Seine Musik, die zwischen Traumwelt, Leiden an der Welt und heldischem Kampf gegen alles Leid schwebt, liegt so offen vor dem heutigen Hörer, das man sich wundert, das diese von Philosophie genährte Grundhaltung des Komponisten seinen Zeitgenossen nicht klar wurde.
Wunderbar geriet zu Beginn der Sinfonie der Urzustand der Natur, unberührt, einfach als bloße Natur. Der Eintritt des Helden hob davon plastisch ab, wenn so vergegenständlicht Musik gedeutet werden darf. Ohne weiteres konnte man die Klangvorstellungen des Dirigenten ablesen. Er formte die Melodien durch kleine Bewegungen nach und versenkte sich in Details, doch nie ließ er die großen Linien aus den Augen. Er ist ein Meister der Übergänge, und das Orchester folgte ihm ohne Mühe.
Herrlich war das Stampfen im zweiten Satz und dagegen das Schubertianische Trio, das Mahler melodienselig den stampfenden Rhythmen entgegen stellte. Ein Fest für Bläser war die Begräbnismusik mit ihrer karikierenden Beimischungen einer Dorfkapelle, und das stille Versinken in den trostlosen Anfang. Eine Musik, die das Elend der Welt, den Jammer beredt einfängt. Jäh hebt der in vielen Teilen heldische letzte Satz an, der aber auch wieder von schmerzlichen Passagen durchzogen wird. Immerhin dauert die Sinfonie eine knappe Stunde und nie ließ einen diese Musik los.
Der junge Dirigent, handwerklich versiert und ein überlegener Leiter des Orchesters, forderte jeden Augenblick intensives Musizieren und ließ darin nicht locker. Das machte den Abend zu einem faszinierendem Erlebnis. Das klanglich Mögliche verlangt er dem Orchester ab und es folgt ihm darin, wie man sah, mit Freuden. Der Beifall war hoch verdient, und dieser Auftakt lässt auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit der NWD blicken.Hans-Christoph Schroeter

Artikel vom 25.09.2006