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Falls Dalgliesh sich bei Emily Holcombe so etwas wie eine Fürsorglichkeit überhaupt vorstellen konnte, so meinte er, sie in ihrem aufmerksamen Blick und augenblicklichen Bemühen um sein Wohlbefinden auszumachen. Die Wärme des Holzfeuers, das gedämpfte Tosen der Wellen und der bequeme Polstersessel belebten ihn, und er lehnte sich wohlig zurück. Man bot ihm Wein, Kaffee oder Kamillentee an, und zu Letzterem sagte er dankbar ja. Für diesen Tag hatte er genügend Kaffee intus.
Sobald Roughtwood den Tee gebracht hatte, sagte Miss Holcombe: »Es tut mir Leid, dass unser Treffen erst so spät stattfindet. Zum Teil, aber nicht ganz, lag das in meinem Interesse. Manche Menschen auf dieser Insel werden Ihnen - wenn sie ehrlich sind, was nur selten der Fall ist - sagen, dass ich eine selbstsüchtige Frau bin. Zumindest das habe ich mit Nathan Oliver gemein.«
»Sie mochten ihn nicht?«
»Er war kein Mensch, der es ertragen konnte, gemocht zu werden. Ich war nie der Ansicht, dass Genie eine Entschuldigung für schlechtes Benehmen ist. Nathan Oliver war ein Bilderstürmer. Alle drei Monate kam er mit seiner Tochter und dem Lektor her, blieb zwei Wochen, sorgte für Unruhe und schaffte es, uns Inselbewohner daran zu erinnern, dass wir ein Haufen unwichtiger Menschen sind, die vor der Wirklichkeit flüchten. Dass wir bloß Symbole sind, wie der alte Leuchtturm, Überbleibsel der Vergangenheit. Er hat unsere Selbstgefälligkeit zum Platzen gebracht wie eine Seifenblase. Insofern hat er seinen Zweck erfüllt. Man könnte ihn als notwendiges Übel bezeichnen.«

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algliesh fragte: »Wäre er denn nicht auch vor der Wirklichkeit geflohen, wenn er sich dauerhaft hier niedergelassen hätte?«
»Das hat man Ihnen also schon erzählt? Ich glaube nicht, dass er es so ausgedrückt hätte. Vermutlich hätte er behauptet, dass er die Einsamkeit braucht, um seine Mission als Schriftsteller zu erfüllen. Er war absolut versessen darauf, einen Roman zu schreiben, der so gut war wie sein vorletzter, obwohl er wusste, dass sein Talent ihn langsam im Stich ließ.«
»Hatte er das Gefühl?«
»O ja. Er hatte panische Angst davor, genau wie vor dem Tod. Und er litt unter Schuldgefühlen. Wenn man beschließt, ohne einen persönlichen Gott auszukommen, ist es unlogisch, sich mit dem jüdisch-christlichen Sündenerbe zu belasten. Dann leidet man nämlich unter den psychischen Nachteilen der Schuld ohne den Trost der Absolution. Oliver hatte reichlich Grund, sich schuldig zu fühlen, wie wir alle im Grunde.«

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ie verstummte, stellte ihr Glas ab und starrte in die sterbenden Flammen. Dann sagte sie: »Nathan Oliver wurde von seinem Talent beherrscht - seinem Genie, falls das das treffendere Wort ist. Hätte er das verloren, wäre nichts als eine leere Hülle geblieben. Also fürchtete er einen zweifachen Tod. Ich habe das bei anderen genialen und überaus erfolgreichen Männern beobachten können, die ich kannte - noch heute kenne. Frauen scheinen das Unausweichliche weitaus stoischer hinzunehmen. Man kann ihm ja nicht entgehen. Ich fahre einmal im Jahr für drei Wochen nach London, um die Freunde und Bekannten zu besuchen, die noch leben. Und um mir in Erinnerung zu rufen, wovor ich flüchte. Oliver war verängstigt und unsicher, aber er hat sich nicht erhängt. Sein Tod hat uns alle durcheinander gebracht, und wir sind es noch. Auch wenn einiges auf das Gegenteil hindeutet, scheint Selbstmord zwar die einzig logische Erklärung zu sein. Aber ich glaube nicht daran. Er hätte sich nicht für diese Todesart entschieden - sie wäre ihm zu hässlich, zu grausig, zu demü?tigend gewesen. Eine Methode der Selbstvernichtung, die ihn mit all jenen jämmerlichen Opfern gemein gemacht hätte, die im Laufe der Jahrhunderte am Galgen baumelten. Dass die Henker das Leben des Opfers mit seinem eigenen Körper ersticken - finden wir diese Todesart deshalb so grässlich? Nein, Nathan Oliver hätte sich nicht stranguliert. Er hätte die Methode gewählt, die auch ich vorziehen würde: Alkohol und Medikamente, ein bequemes Bett, ein angemessen formuliertes Lebewohl, falls ihm danach gewesen wäre. Um Dylan Thomas zu bemühen, er wäre sanft in jene gute Nacht gegangen.«

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tille breitete sich aus, dann sagte sie: »Ich war dabei, wie Sie wissen. Nicht als er starb, natürlich nicht, aber als er abgeschnitten wurde. Nur dass er eben nicht abgeschnitten wurde. Rupert und Guy konnten sich nicht entscheiden, ob sie ihn runterlassen oder hochziehen sollten. Einige Minuten lang, die uns endlos vorkamen, war er ein menschliches Jo-Jo. Da bin ich gegangen. Und habe Millie mitgenommen. Ich bin weiß Gott neugierig, aber ich empfand einen atavistischen Ekel dabei, eine Leiche auf diese Weise misshandelt zu sehen. Der Tod verlangt nach gewissen Konventionen. Sie haben sich natürlich schon daran gewöhnt.«
Dalgliesh sagte: »Nein, Miss Holcombe, wir werden uns nie daran gewöhnen.«
»Meine Abneigung gegen ihn hatte eher persönliche Gründe, als dass sie aus einer allgemeinen Ablehnung seiner Charakterfehler resultierte. Er wollte mich aus diesem Cottage heraus haben. Laut Stiftungsvertrag habe ich das Recht, auf der Insel zu wohnen, aber der Vertrag legt nicht ausdrücklich fest, welche Unterkunft mir zur Verfügung gestellt werden soll und ob ich die freie Wahl habe oder meinen Butler mitbringen kann. So gesehen könnte man vielleicht sagen, dass er nicht darüber verärgert war, obwohl er selbst immer mit seiner Entourage anreiste. Rupert wird Ihnen gesagt haben, dass man ihn eigentlich nicht hätte abweisen können, schon gar nicht mit der Begründung, dass er ein widerwärtiger Mensch war. Der Stiftungsvertrag bestimmt, dass niemandem, der hier auf der Insel geboren wurde, der Aufenthalt verwehrt werden darf. Eigentlich ist diese Klausel völlig ungefährlich. Seit dem achtzehnten Jahrhundert ist außer Nathan Oliver hier niemand mehr geboren worden, und Oliver auch nur, weil seine Mutter ihre Wehen für Verdauungsbeschwerden hielt und er zwei Wochen zu früh auf die Welt kam, und das, wie ich vermute, reichlich hastig. Bei diesem letzten Besuch war er jedenfalls besonders hartnäckig. Er hat vorgeschlagen, dass ich ins Puffin Cottage ziehe und das hier für ihn räume. Das klingt alles sehr vernünftig, aber ich hatte - und habe - keineswegs die Absicht umzuziehen.«
Das alles war Dalgliesh nicht neu, und er war nicht ins Atlantic Cottage gekommen, um darüber mit ihr zu sprechen. Er spürte, dass sie wusste, warum er da war.

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ie bückte sich, um ein weiteres kleines Scheit aufs Feuer zu werfen. Er kam ihr zuvor und legte es behutsam in die Flammen. Blaue Zungen leckten an dem trockenen Holz, und der Feuerschein wurde heller, ließ das glänzende Mahagoni aufleuchten und warf sein rötliches Licht auf die Lederrücken der Bücher, den Steinboden und die kräftigen Farben der Teppiche. Emily Holcombe beugte sich vor und hielt die langen, schwer beringten Finger näher an die Flammen. Er sah ihr Gesicht im Profil, die feinen Züge vor dem Feuer gestochen scharf wie bei einer Kamee. Eine Minute lang blieb sie schweigend so sitzen. Dalgliesh hatte den Kopf gegen die Rückenlehne des Sessels gelehnt und spürte, wie der Schmerz in Beinen und Armen sachte nachließ. Er wusste, dass sie bald das Wort ergreifen würde und dass er aufmerksam zuhören musste, damit ihm nichts von der Geschichte entging, die zu erzählen sie endlich bereit war. Er wünschte sich, sein Kopf würde sich nicht so schwer anfühlen und dass er irgendwie den Drang überwinden könnte, die Augen zu schließen und sich der Ruhe und Behaglichkeit hinzugeben.
Dann sagte sie: »Ich hätte gern noch etwas Wein«, und reichte ihm ihr Glas. Dalgliesh füllte es halb und goss sich selbst eine zweite Tasse Tee ein. Er schmeckte nach nichts, aber die heiße Flüssigkeit tat ihm gut.
Sie begann: »Ich war froh, dass dieser Termin mit Ihnen nicht eher anstand - ich hätte ihn sonst bewusst hinausgezögert, weil ich mich zuvor mit zwei Personen beraten musste. Jetzt, da Raimund Speidel ins Krankenhaus gebracht worden ist, habe ich beschlossen, seine Einwilligung einfach vorauszusetzen. Ich gehe allerdings davon aus, dass Sie dieser Geschichte keinen größeren Wert beimessen werden, als ihr zukommt. Es ist eine alte Geschichte, die größtenteils nur mir bekannt ist. Sie wird kein neues Licht auf Nathan Olivers Tod werfen, aber das können letzten Endes nur Sie entscheiden.«

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algliesh sagte: »Bei meinem Gespräch mit Dr. Speidel am Samstagnachmittag hat er nicht erwähnt, dass er bereits eine Unterredung mit Ihnen hatte. Er wirkte wie jemand, der noch immer auf der Suche nach der Wahrheit ist, nicht wie jemand, der sie gefunden hat, doch ich glaube, er war nicht ganz ehrlich. Natürlich ging es ihm zu dem Zeitpunkt bereits nicht gut. Vielleicht hielt er es für klüger, die weitere Entwicklung abzuwarten.«
»Und jetzt, da Dr. Speidel ernstlich krank und ihrem Zugriff entzogen ist, möchten Sie die Wahrheit wissen, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Das ist ja wohl der sinnloseste Eid, den man überhaupt schwören kann. Die ganze Wahrheit kenne ich nicht, aber ich kann Ihnen erzählen, was ich weiß.«
Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und starrte ins Feuer. Dalgliesh hielt die Augen auf ihr Gesicht gerichtet.
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 30.09.2006