19.09.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 

Wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit verbinden

Ein Gespräch mit Jürgen Rüttgers, CDU-Vize und NRW-Ministerpräsident

Von Reinhard Brockmann
Bielefeld (WB). Jürgen Rüttgers hatte gestern einen durchaus angenehmen Tag. Und das, obwohl die Unionsspitze gleich zwei schwere Wahlschlappen zu verdauen hatte. Vermutlich musste der stellvertretende Bundesvorsitzende in Berlin nicht einmal viel sagen. Lebenslügen haben eben kurze Beine. Mit seinem Ruf nach mehr sozialem Ausgleich hatte der selbsternannte einzig wahre Vorsitzende einer Arbeiterpartei im Sommer den Weg gewiesen.

Als der Ministerpräsident um 16.38 Uhr in Bielefeld aus dem Zug stieg, war er zurück in »seinem« NRW, wo inzwischen vieles besser läuft als in Berlin. Und knapp eineinhalb Jahre nach der schwarz-gelben Wende in NRW ist auch ein Festvortrag vor der heimischen Wirtschaft ein ausgesprochen angenehmer Termin.
Angelas Merkels Ansage, wonach es auch am Tag nach den Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern keine Alternative zur gegenwärtigen Bundespolitik gibt, übersetzt ihr Vize mit stiller Genugtuung so: »Es gibt keine Alternative zu einer Politik, die versucht, wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit miteinander zu verbinden.«
Seit Jahren finde eine ungeheure Veränderung in der Wirtschaft statt. Deshalb müsse eine Debatte darüber geführt werden müssen, »wie wir eigentlich in diesem Jahrhundert leben wollen«. Darum habe er die Frage der sozialen Balance in Zeiten der Globalisierung bewusst angestoßen, bekennt Rüttgers im Redaktionsgespräch mit dieser Zeitung. Überhaupt nicht vorstellen kann er sich, dass jene Recht haben sollen, deren Mantra »Kosten senken, Kosten senken, Kosten senken« laute. »Bei allem Kostenwettlauf nach unten, wir werden nie mit Indien oder China konkurrieren.«
Sozial bedeutet für den rheinischen Katholiken aber »auch nicht sozialistisch oder einfach die staatlichen Transferleistungen erhöhen«. Am Ende müssten mehr Sicherheit und nicht neue Unsicherheiten stehen. Für junge Leute bedeute das auch wieder Aufstiegschancen, wie es das schon einmal gab. »Ich hätte jede Lehrstelle haben können, ich hätte aber auch mit Ausnahme von Medizin alles studieren können, was ich wollte,« sinniert der Sohn eines Elektrikers.
Sozialschwärmerisch will er nicht sein, auf keinen Fall aber den Bodenkontakt verlieren: »Wir müssen versuchen, die Lohnnebenkosten zu senken, aber nicht so tun, als ob die Leute zu viel verdienten.« Außerdem, rät er den Kollegen Bundespolitikern zur Vorsicht: »Wer Menschen, die von morgens bis abends arbeiten, sagt, dass sie nicht das wert sind, was sie bekommen, geht völlig an der Lebenswirklichkeit vorbei.« Über Peer Steinbrücks Hinweis, man könne ja auf Urlaub verzichten, kann Rüttgers nur mit dem Kopf schütteln.
Mit »Lebenslüge« und »Generalrevision« (von Hartz IV) hatte sich der NRW-Chef allerdings auch schon den Mund verbrannt. Hat er die Worte also aus seinem aktiven Wortschaft gestrichen? Im Gegenteil, mehr als ein Jahr habe sich keiner aufgeregt. Dann hätten ihm wichtige Freunde gesagt, sie könnten zu 100 Prozent zustimmen, »wenn ich das Wort Lebenslüge nicht mehr in dem Mund nehme.« Rüttgers ganz entspannt. »Wenn es das sein soll, dann verzichte ich gerne.«
Das Wort von der »Generalrevision« werde inzwischen im Präsidium der CDU benutzt. Selbst die Bundeskanzlerin spreche von genereller Überholung. Rüttgers: »Aber das bedeutet ja wohl dasselbe.«

Artikel vom 19.09.2006