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Ohne Stammwähle ist eine Wahl in diesen orientierungsschwachen Zeiten nicht mehr zu bestehen.«

Leitartikel
Frankreich

Die frühen
Schatten
der Wahl


Von Jürgen Liminski
Die Franzosen rätseln noch immer. Man hatte sich eher erleichtert damit abgefunden, dass Frankreich im Hornissennest Südlibanon nur eine kleine Flagge zeigen sollte. Dann kam die unerwartete Volte des Präsidenten, obwohl sich die Situation nicht geändert hat. Es gibt kein ausdrückliches Mandat für die UN-Truppe, die Hisbollah zu entwaffnen. Man kann sich nur auf die vorige Libanon-Resolution 1559 berufen, in der die libanesische Armee dazu aufgefordert wird. Diese Armee, zu der sich übrigens immer mehr ehemalige Hisbollah-Anhänger freiwillig melden, soll von der UN-Truppe bei dieser Arbeit unterstützt werden.
Eine Erklärung für die Volte Chiracs ist: Wenn die Krise in ein paar Monaten wieder aufflammt, französische Legionäre in die Kämpfe verwickelt werden und im Hintergrund die iranische Atomkrise die Lage über die Region hinaus verdunkelt, dann könnte der Präsident auftreten und sagen, in dieser internationalen Krise braucht Frankreich einen krisenerprobten, erfahrenen Mann an der Spitze, ich kandidiere doch noch für die Präsidentschaft. Und unausgesprochen: Das verhindert dann auch, dass die auf Eis gelegten Ermittlungsverfahren gegen Chirac aufgenommen werden und er womöglich vor Gericht landet.
Das ist eine Spekulation, die hier und da angestellt wird. Sie zeigt, dass man den Politikern so ziemlich alles zutraut und dass schon heute, acht Monate vor den Urnengängen, alles im Schatten der kommenden Präsidenten-und Parlamentswahlen steht. Dabei sind noch wichtige Hürden für die derzeit führenden Favoriten zu überwinden. Im Lager der Linken wirkt die desaströse Niederlage von 2002 nach, als ihr Kandidat Lionel Jospin noch nicht einmal in die Stichwahl kam und die linken Wähler sich für einen Rechten (Chirac) gegen einen Extremrechten (Le Pen) entscheiden mussten. Das soll nie wieder geschehen.
Deshalb soll vorher, und zwar im November ein einziger Kandidat der Sozialisten gekürt werden, damit die vielen Kandidaten sich nicht gegenseitig die Stimmen wegnehmen. Das könnte in der Tat das Feld der Linken übersichtlicher gestalten. Beste Aussichten hat im Moment die frühere Ministerin Segolène Royal, die Lebensgefährtin von Parteichef Hollande.
Der Favorit der Bürgerlichen, Innenminister Sarkozy, lässt ebenfalls eine Strategie erkennen. Er bemüht sich vor allem um Stammwähler. Dahinter steht die Erkenntnis, dass im ersten Wahlgang ein Programm gewählt wird und dass das Buhlen um Wechselwähler die Stammwähler abstößt.
Deshalb legt er besonders wert auf Fragen der Immigration, der Sicherheit, der sozialen Strukturen, der Werte wie Familie und Kultur. Denn ohne Stammwähler, ohne inhaltliche Identifikationsflächen ist eine Wahl in diesen orientierungsschwachen Zeiten nicht mehr zu bestehen. Eine Erkenntnis übrigens, die auch für andere Länder gilt.

Artikel vom 04.09.2006