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Natascha offenbar missbraucht

Entführungsopfer blass und dünn - Psychologe: »Sie muss leben lernen«

Von Irmgard Schmidmaier
Wien (dpa). Die Eltern von Natascha (18), die ihrem Entführer am Mittwoch nach acht Jahren entkommen war, haben am Freitag unter Tränen das Wiedersehen geschildert. »Wir sind uns in die Arme gefallen und haben hemmungslos geweint«, sagte der Vater. Für die Mutter war das Auftauchen der Tochter »eine zweite Geburt«.
Entführer Wolfgang Priklopil beging Selbstmord.

Bei den ersten Vernehmungen wollte sie nur Süßes, am Morgen dann Kamillentee. Das normale Leben ist eine neue Welt für Natascha Kampusch. Die Mutter bringt ihr neue Kleider - in Größe 32: »Sie ist so blass und dünn«, sagt sie erschüttert. Auf den Fahndungsfotos von 1998 war ein pummeliges Schulmädchen zu sehen. Die 18-Jährige ist 1,60 Meter groß - und wiegt nur 42 Kilo.
3097 Tage hat sie in einem dunklen Gefängnis bei Wien verbracht, das ihr Peiniger, der Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil, unter seiner Garage eingerichtet hatte: 1,81 Meter breit, 2,78 Meter lang und 2,37 Meter hoch. Darin ein Hochbett, ein Schreibtisch, eine Toilette, ein Waschbecken - kein Fenster, nur eine Lüftung. »Natascha kam als Kind hinein und als Frau heraus«, sagt Polizeipsychologe Reinhard Haller. Er glaubt: Der Weg zurück in den Alltag wird schwierig für die 18-Jährige, die entscheidende Jahre ihres Lebens ohne Freunde, ohne Familie, ohne Kontakt zur Außenwelt verbringen musste.
»Sie muss leben lernen«, sagt der Kinderpsychologe Max Friedrich, der die junge Frau betreut: »Sie kennt die Spielregeln der Gleichaltrigen nicht.« Auf die Ermittler macht sie einen höchst intelligenten Eindruck, sie spreche eigenartig wirkendes Hochdeutsch, könne sich aber gut artikulieren.
In der Zeit, in der ein junger Mensch normalerweise in der Auseinandersetzung mit der Umwelt die eigene Persönlichkeit entwickelt, war Natascha allein mit jenem Mann, der sie am 2. März 1998 morgens um 7.20 Uhr auf dem Schulweg in einen Lieferwagen gezerrt und zu seinem Haus gebracht hatte. Ein Eigenbrötler, sagen Bekannte, zurückgezogen und schüchtern, aber freundlich.
Anfangs musste Natascha ihren Peiniger »Gebieter« nennen, jahrelang durfte sie das winzige Kellerloch nicht verlassen. Erst in den vergangenen Monaten wurde der Kidnapper nachlässiger.
Die Gelegenheit zur Flucht ergriff Natascha, als sie das Auto des Täters in der unversperrten Garage reinigen sollte. Ihr Peiniger telefonierte und trat einen Schritt zur Seite, um besseren Empfang zu haben. »Da bin ich losgelaufen«, zitiert der »Kurier« die junge Frau. Der 44-jährige Nachrichtentechniker setzte sich darauf in sein Auto und raste davon. Stunden später warf er sich in Wien vor einen Zug.
Noch ungeklärt ist, ob die Jugendliche sexuell missbraucht worden ist. »Aus meiner Sicht ja«, sagte jene Polizeibeamtin, die Natascha nach ihrer Flucht zuerst betreut hatte. »Aber ihr ist das nicht bewusst. Sie sagt, sie habe immer alles freiwillig gemacht.«

Artikel vom 26.08.2006