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Dort, wo sonst die Besucher des »Bielefelder Tisches« ihre Mahlzeiten einnehmen, stapeln sich Gemüsekisten. Vor jedem der drei Öffnungstage benötigt das Helferteam den Platz, um die Mahlzeit für den folgenden Tag vorzubereiten. Denn wenn sich Dienstag- und Donnerstagabend oder Samstagmittag die Türe öffnet, muss für die Gäste alles fertig sein. Für Rolf-Rüdiger Schuster sind diejenigen, die sich keine Mahlzeit leisten können, die als Obdachlose leben, deren Sucht alles andere verdrängt, die Probleme mit dem Alltag haben, »Gäste«, denen er mit Offenheit und Respekt begegnet. Sie so anzunehmen, wie sie sind, ist für ihn Voraussetzung für diese soziale Arbeit. Niemand wird bevormundet, aber jeder bekommt hier die Hilfe, die er anzunehmen bereit ist.
Und Hilfe brauchen einige. Nicht nur die 50 Obdachlosen, die die Stadt Bielefeld in ihrer Statistik führt. (»Dabei brauchte keiner auf der Straße zu leben, die Stadt sorgt für Wohnung - besser als in vielen anderen Städten«, schiebt Schuster nebenbei ein.) Am »Bielefelder Tisch« nehmen pro Öffnungstag bis zu 200 Personen Platz; auch Kinder. Für sie gibt es eigens eine gemütliche Holzhütte, die »Löwengrube«, in der sie Essen, aber auch Spielen oder Schularbeiten machen.
»Auch ich habe dazu gelernt«, erzählt Schuster, »und erkennen müssen, dass diese Hütte sinnvoll ist.« Spätestens, als ihm eine türkische Mutter erzählte, dass diese Zeit in der Woche die einzigen Stunden seien, die sie einmal für sich habe. Nun ist sie seit einem Jahr eine gute Ergänzung, rundet das Angebot neben der medizinischen Betreuung durch eine Bethel-Ärztin (jeweils dienstags) und der Kleiderkammer ab. Mittlerweile gibt es für die »Löwengrube« eigens pädagogisch geschulte oder ausgebildete ehrenamtliche Helfer, die sich um die Kinder - zehn Nationen an einem Tisch sind keine Seltenheit - kümmern.
Dazulernen, weiterentwickeln, flexibel bleiben - das streben Schuster und Geschäftsführer Ulrich Wienstroth an und fordern es auch von ihren Mitstreitern. Grundsätzlich ist das Ziel, jeden nach seinen Möglichkeiten und Kräften einzusetzen. Natürlich, meint Schuster, brauche es den Helfer, die Helferin, die anleite, den Überblick behalte und Verantwortung übernehme. Platz ist aber auch für einen Helfer, der eine kleine Aufgabe ausfüllt. Und manchen und manche hat Schuster schon im Laufe der Zeit wachsen sehen: an Selbstvertrauen und -bewusstsein. Gelegentlich kommt es auch vor, dass Gäste zu Helfern werden.
Wo sich so viele Menschen für drei bis vier Stunden wohl fühlen können, muss es Regeln geben. Jene, beispielsweise, Konflikte vor der Tür zu lassen. Und seit einem Jahr gilt auch ein striktes Alkoholverbot. Denn wenn es einmal lautstarke Auseinandersetzungen gab, war meistens Alkohol im Spiel. »Wir haben lange gezögert, aber es ist der richtige Weg und es klappt wunderbar.« In Ruhe eine Mahlzeit einzunehmen, ist den Gästen wichtig. Und eine Besucherin hat einmal gestaunt, als sie zwei Männer einträchtig an einem Tisch essen sah. Auf der Straße würden sie nicht so friedlich miteinander umgehen, sagte sie Schuster.
Ohne Helfer kein »Tisch«: sie holen die angebotenen Lebensmittel ab, bereiten Mahlzeiten vor, kochen, teilen aus, machen wieder »klar Schiff«. Sie sorgen dafür, dass der Umschlagplatz funktioniert, dass Beutel mit belegten Brote und anderem Nahrhaftem gefüllt werden, die Menschen ohne Obdach anschließend noch mitnehmen können. Und dann gibt es auch die, die seit Jahren kontinuierlich den Lebensmittel-Überfluss zur Verfügung stellen, der sonst ungenutzt bliebe. Sowie jene, die spontan zur Stelle sind, wenn beispielsweise ein Heißwasserboiler angeschlossen werden muss.
Rolf-Rüdiger Schuster und Ulrich Wienstroth können viele Beispiele nennen für uneigennützige Unterstützung. Da ist eine Gruppe junger Menschen, die im Supermarkt einen Tag für den »Bielefelder Tisch« wirbt und Kunden um Sachspenden in kleinem Umfang bittet. Denn die Packung Nudeln, getrocknete Hülsenfrüchte, die Flasche Öl, das Paket Zucker werden neben den frischen Produkten ebenfalls in der Küche benötigt. Oder Teenager, die ein paar Stunden Mitarbeit anbieten und sich gemeinsam mit Gleichaltrigen zu einem tollen Spülküchen-Team entwickeln.
»Erstaunlich, wie viele Menschen mitdenken«, meint Schuster nachdenklich, wenn er im Kopf die Beispiele auflistet. Soviel Unterstützung berührt ihn, der selbst lieber gibt als nimmt. Und der weiß, dass soziale Unterstützung in den nächsten Jahren immer mehr zu einer Sache wird, die Bürger für Bürger leisten und nicht mehr der Staat.
Auch unter diesem Aspekt ist eine Idee von ihm zu sehen: »Man müsste in Bielefeld eine ÝBörseÜ einrichten für die gemeinnützigen Vereine. Damit Geräte oder andere Gegenstände, die der eine Verein nicht braucht, einem anderen zugute kommen können.
Der »Tisch« pflegt bereits gute Kontakte mit dem »Brackweder Lebensmittelpunkt«, dem »Dornberger Lebensmittelkorb« und hat eine »Tochter«, die »Gütersloher Suppenküche«.
Zudem arbeitet der Verein mit den 20 Suppenküchen in NRW, der Food Bank in Bielefelds polnischer Partnerstadt Rzeszow und der Evangelischen Allianz Bielefeld zusammen.
Zusammen lässt sich vieles bewältigen und bewegen; das beweist der »Bielefelder Tisch«. Für Schuster, der seit zehn Jahren als »Sozialarbeiter« tätig ist, gehört aber auch eines dazu: das Gebet. Das drängt er keinem auf; aber er bietet es an. Da kommt sein ursprünglicher Beruf zu Tage - der Seelsorger.

Artikel vom 12.08.2006