04.09.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Auf der Überfahrt hierher habe ich mich plötzlich unwohl gefühlt, aber es war nicht so schlimm, dass ich meinen Besuch absagen wollte. Mit etwas Ruhe und frischer Luft bin ich bestimmt bald wieder auf dem Damm. Es wäre mir äußerst unangenehm, wenn ich die Grippe auf die Insel einschleppen würde.«
Dalgliesh sagte: »Wenn Sie sich lieber später mit mir unterhalten würden É«
»Nein, nein. Ich muss jetzt mit Ihnen reden. Ich denke, ich kann Ihnen bei der Todeszeit helfen. Was Nathan Olivers Gemütsverfassung angeht, bin ich überfragt. Ich habe ihn nicht persönlich gekannt, und auch wenn ich glaube, den Schriftsteller zu verstehen, so möchte ich mir doch kein Urteil über den Menschen anmaßen. Was allerdings den Zeitpunkt des Todes betrifft, da kann ich Ihnen behilflich sein. Ich war um acht Uhr heute Morgen mit ihm im Leuchtturm verabredet. Ich hatte eine unruhige, fiebrige Nacht und verließ mit nur geringer Verspätung das Cottage. Es war sechs Minuten nach acht, als ich am Leuchtturm ankam. Ich konnte allerdings nicht hinein. Die Tür war verschlossen.«
»Wie sind Sie zum Leuchtturm gekommen, Dr. Speidel? Hatten Sie den Wagen bestellt?«
»Nein, ich bin zu Fuß gegangen. Nachdem ich an dem Cottage nicht weit von meinem vorbei war - es heißt Atlantic, glaube ich -, bin ich zur unteren Klippe hinabgeklettert und habe den Pfad dort genommen, bis er rund zwanzig Meter vor dem Leuchtturm unpassierbar wurde. Ich wollte nämlich möglichst unbemerkt bleiben.«
»Haben Sie jemanden gesehen?«
»Nein, weder auf dem Hin- noch auf dem Rückweg.«
Nach einem Moment der Stille fuhr Speidel unaufgefordert fort: »Als ich vor der Leuchtturmtür stand, habe ich einen Blick auf meine Uhr geworfen. Obwohl ich mich um sechs Minuten verspätet hatte, hatte ich doch angenommen, dass Mr. Oliver auf mich warten würde, entweder vor der Tür oder im Leuchtturm. Aber wie gesagt, die Tür war verschlossen.«
Maycroft schaute Dalgliesh an. »Dann muss sie von innen verriegelt gewesen sein. Wie ich Mr. Dalgliesh bereits erklärt habe, gibt es zwar einen Schlüssel, doch ist er schon vor Jahren verloren gegangen.«
Dalgliesh wandte sich an Speidel. »Haben Sie gehört, dass ein Riegel vorgelegt wurde?«
»Gar nichts habe ich gehört. Ich habe so laut ich konnte an die Tür geklopft, aber es hat niemand aufgemacht.«
»Sind Sie um den Leuchtturm herumgegangen?«
»Auf die Idee bin ich gar nicht gekommen. Es hätte bestimmt nichts gebracht. Mein erster Gedanke war, dass Mr. Oliver den Schlüssel holen gegangen sein musste, weil er wie ich die Tür verschlossen vorgefunden hatte. Andere Möglichkeiten waren, dass er sich gar nicht mit mir treffen wollte oder dass meine Nachricht ihn nicht erreicht hatte.«
Dalgliesh fragte: »Wie war die Verabredung vereinbart worden?«

W
enn ich mich besser gefühlt hätte, wollte ich am Dinner teilnehmen und dort mit Mr. Oliver sprechen. Ich wusste, dass er sich angemeldet hatte. Stattdessen habe ich ihm eine Nachricht geschrieben. Als die junge Frau mir Suppe und Whisky brachte, habe ich ihr die Nachricht mitgegeben und sie gebeten, sie Mr. Oliver auszuhändigen. Sie war mit dem Wagen gekommen, und von der Tür aus konnte ich verfolgen, wie sie den Umschlag in den Lederbeutel am Armaturenbrett steckte, auf dem ÝPostÜ steht. Sie sagte, sie würde sie persönlich bei Mr. Oliver im Peregrine Cottage abliefern.«
Dalgliesh sagte nicht, dass bei der Leiche kein Brief gefunden worden war. Er fragte: »Haben Sie in der Nachricht darum gebeten, die Verabredung diskret zu behandeln?«

S
peidel brachte ein gequältes Lächeln zustande, das von einem weiteren, wenngleich kürzeren Hustenanfall unterbrochen wurde. Er sagte: »Ich habe natürlich nicht geschrieben, er soll die Nachricht verbrennen oder aufessen. Das sind alberne Mätzchen. Ich habe nur geschrieben, dass ich mit ihm über eine für uns beide wichtige, private Angelegenheit reden wollte.«
Dalgliesh sagte: »Erinnern Sie sich noch an den exakten Wortlaut?«
»Selbstverständlich. Ich habe sie ja erst gestern geschrieben, kurz bevor die junge Frau - Millie, richtig? - mit den Sachen kam, die ich bestellt hatte. Das ist noch keine vierundzwanzig Stunden her. Ich habe ein einfaches Blatt weißes Papier genommen und oben den Namen und die Telefonnummer von meinem Cottage sowie die Uhrzeit und das Datum hingeschrieben. Dann habe ich um Verzeihung gebeten, ihn in seiner Zurückgezogenheit stören zu müssen, dass es aber eine Angelegenheit gebe, die für mich von größter Wichtigkeit und auch für ihn von Interesse sei, und dass ich gern unter vier Augen mit ihm darüber sprechen wolle. Ob er sich bitte um acht Uhr am nächsten Morgen mit mir im Leuchtturm treffen könne? Falls ihm das ungelegen sei, wäre ich dankbar, wenn er mich im Shearwater Cottage anrufen und einen anderen Zeitpunkt vereinbaren könnte.«
»Haben Sie die Uhrzeit, acht Uhr, in Worten oder in Ziffern hingeschrieben?«
»In Worten. Als ich feststellte, dass der Leuchtturm abgeschlossen war, dachte ich, die junge Frau hätte vielleicht vergessen, die Nachricht abzuliefern, aber ich war nicht sonderlich beunruhigt. Mr. Oliver und ich waren beide auf der Insel. Er konnte mir kaum entkommen.«

D
ie Formulierung, fast beiläufig dahingesagt, war dennoch überraschend und vielleicht, so dachte Dalgliesh, bedeutsam. In die entstandene Stille hinein fragte er: »War der Umschlag zugeklebt?«
»Nein, nicht zugeklebt, ich hatte nur die Lasche nach innen gesteckt. Normalerweise klebe ich keinen Umschlag zu, der durch Boten zugestellt wird. Ist das hier nicht ebenso üblich? Natürlich hätte jeder ihn öffnen und die Nachricht lesen können, aber ich bin gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass jemand das tun könnte. Die Angelegenheit, über die ich sprechen wollte, war vertraulich, nicht unser Treffen.«
»Und danach?« Dalgliesh sprach so sanft, als würde er einem verunsicherten Kind Fragen stellen.
»Ich beschloss zu sehen, ob Mr. Oliver in seinem Cottage war. Gleich nach meiner Ankunft hatte ich mich bei der Hauswirtschafterin erkundigt, wo er untergebracht war. Ich machte mich auf den Weg, überlegte es mir dann aber anders. Es ging mir nicht gut, und ich fand, es wäre vielleicht ratsamer, ein möglicherweise schmerzliches Treffen auf später zu verschieben, bis ich mich wieder besser fühlen würde. Es bestand ja kein Zeitdruck. Wie gesagt, er konnte einer Begegnung mit mir kaum ausweichen. Ich beschloss kurzerhand, auf dem Rückweg zu meinem Cottage noch einmal beim Leuchtturm vorbeizuschauen, vielleicht war er ja doch noch gekommen. Diesmal war die Tür angelehnt. Ich schob sie auf, stieg die ersten beiden Treppen hinauf und rief seinen Namen. Es kam keine Antwort.«
»Sie sind nicht bis ganz oben gegangen?«
»Das erschien mir ziemlich sinnlos, und ich war müde geworden. Mein Husten machte mir zu schaffen. Mir wurde klar, dass ich mir zu viel zugemutet hatte.«

S
o, dachte Dalgliesh, jetzt kommt die entscheidende Frage. Er überlegte sorgfältig, wie er sie formulieren sollte. Es war überflüssig, Speidel zu fragen, ob ihm im Erdgeschoss etwas aufgefallen war, da der Mann zum ersten Mal dort gewesen war. Doch selbst auf die Gefahr hin, eine Suggestivfrage zu stellen, war sie unumgänglich. »Sind Ihnen die Kletterseilrollen an der Wand direkt neben der Tür aufgefallen?«
Speidel sagte: »Ja, die habe ich bemerkt. Darunter stand eine Holztruhe. Ich vermute, da war noch mehr Kletterausrüstung drin.«
»Ist ihnen aufgefallen, wie viele Seile es waren?«
Speidel sagte: »Fünf. An dem Haken, der am weitesten von der Tür entfernt war, hing kein Seil.«
»Sind Sie sich da ganz sicher, Dr. Speidel?«
»Absolut. Solche Details fallen mir immer auf. Außerdem habe ich in meiner Jugend selbst Klettertouren gemacht, und ich fand es interessant, dass es hier auf der Insel anscheinend auch die Möglichkeit dazu gab. Danach habe ich die Tür geschlossen und bin querfeldein zu meinem Cottage zurückgegangen, was natürlich der bequemere Weg war, ohne den Abstieg zur unteren Klippe.«
»Sie sind also auch beim zweiten Mal nicht um den Leuchtturm herumgegangen?«

D
r. Speidels Husten und seine offensichtlich erhöhte Temperatur hatte seine Intelligenz nicht beeinträchtigt. Mit einem Anflug von Schärfe sagte er: »Wenn ja, Commander, wäre mir wohl ein aufgehängter Körper nicht entgangen, selbst im Morgennebel. Ich habe den Leuchtturm nicht umrundet, ich habe nicht nach oben geblickt, und ich habe ihn nicht gesehen.«
Dalgliesh fragte leise: »Was wollten Sie mit Mr. Oliver unter vier Augen besprechen? Verzeihen Sie, wenn die Frage aufdringlich erscheint, aber Sie werden gewiss verstehen, dass ich das wissen muss.«
Wieder überlegte Speidel, bevor er antwortete: »Eine Familienangelegenheit. Sie kann unmöglich etwas mit diesem Todesfall zu tun haben, das kann ich Ihnen versichern, Commander.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 04.09.2006