01.09.2006 Artikelansicht
Ausschnitt Zeitungsausschnitt
Drucken Drucken

 



Dann hat er den Wunsch geäußert, er wolle im großen Haus zu Abend essen und ich solle doch Mrs. Burbridge anrufen, dass es einen Esser mehr geben würde. Es käme ein Gast zum Essen, den er besonders gern kennen lernen würde. Damit muss er Dr. Speidel gemeint haben oder Dr. Yelland, andere Gäste sind nämlich im Moment nicht da.«
»Hat er Ihnen angedeutet, worum es ging?«
»Nein, hat er nicht. Er hat nur gesagt, dass er sich in seinem Zimmer noch etwas ausruhen wolle, bis es Zeit sei, sich für das Dinner umzuziehen. Ich habe ihn erst wieder gesehen, als er kurz nach halb acht runterkam, um zum Combe House zu gehen. Er hat nur angekündigt, dass es nicht spät werden würde.«
Dalgliesh wandte sich an Tremlett. »Und wann sind Sie ihm zuletzt begegnet?«
»Kurz vor ein Uhr. Ich bin wie üblich zum Mittagessen in meine Unterkunft im Stallgebäude gegangen. Wie meistens am Freitag brauchte er mich am Nachmittag nicht mehr, und deshalb wollte ich einen Spaziergang machen. Ich habe Miranda gesagt, wo ich hinwollte, und ich wusste, dass sie mich dort treffen würde, damit wir weiter über unsere Pläne sprechen konnten. Hinterher wollte sie dann mit ihrem Vater reden, und ich bin wieder zurück in mein Zimmer im Stallgebäude. Um acht Uhr abends bin ich hierher gekommen und dachte eigentlich, dass er mit uns beiden zu Abend essen würde, aber Miranda sagte, er sei zum großen Haus gegangen. Ich habe ihn nicht wieder gesehen.«
Diesmal kamen seine Worte schneller und unbefangener. Waren sie vielleicht einstudiert?
Kate sah Miranda an. »Er muss sehr spät nach Hause gekommen sein.«
»Jedenfalls später, als ich erwartet hatte, doch ich habe die Tür trotzdem noch gehört und auf meinen Wecker geschaut. Es war kurz nach elf. Er ist nicht mehr zu mir reingekommen, um gute Nacht zu sagen. Normalerweise tut er das, aber nicht immer. Ich denke, er wollte mich nicht stören. Heute Morgen habe ich gegen zwanzig nach sieben durch mein Fenster beobachtet, wie er wegging. Ich hatte gerade geduscht und zog mich an. Unten habe ich dann festgestellt, dass er sich Tee gekocht und eine Banane gegessen hatte. Ich habe gedacht, er wollte nur einen Morgenspaziergang machen und wäre dann zum richtigen Frühstück wieder da.«

B
islang war die Rede noch nicht auf den Haufen verkohltes Papier im Kamin gekommen. Dalgliesh war ein wenig verwundert darüber, dass es noch nicht weggeräumt worden war. Vielleicht hatten Miranda Oliver und Tremlett eingesehen, wie zwecklos das wäre, weil Maycroft und Staveley mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausgesagt hatten, was ihnen aufgefallen sei.
Dalgliesh fragte: »Da sind Papiere verbrannt worden. Können Sie mir dazu etwas sagen?«
Tremlett schluckte, antwortete aber nicht. Er blickte flehend zu Miranda Oliver hinüber, aber sie war vorbereitet. »Das waren die Druckfahnen vom letzten Buch meines Vaters. Er hatte daran gearbeitet, wichtige Änderungen vorgenommen. Mein Vater hätte das niemals getan. Irgendwer muss nachts ins Cottage eingedrungen sein.«
»War die Tür denn nicht abgeschlossen?«
»Nein. Das ist sie fast nie, weil das auf der Insel unnötig ist. Als er gestern Abend spät nach Hause kam, hätte er sie wohl aus Gewohnheit vermutlich abgeschlossen, aber vielleicht hat er es auch vergessen oder es war ihm zu lästig. Als ich heute Morgen aufstand, war jedenfalls nicht zugesperrt. Da war Daddy jedoch schon weg und könnte sie auch einfach offen gelassen haben.«
»Dann wird er die verbrannten Druckfahnen doch bestimmt gesehen haben. Das muss ihn doch entsetzt haben. Wäre es da nicht normal gewesen, Sie zu wecken und zu fragen, wie das passieren konnte?«
»Vielleicht, nur hat erÕs nicht getan.«
»Finden Sie das nicht erstaunlich?«
Und jetzt blickten sie ihn unverhohlen feindselig an. »Alles ist erstaunlich, was seit gestern geschehen ist. Es ist erstaunlich, dass mein Vater tot ist. Vielleicht hat er das mit den Druckfahnen nicht bemerkt oder, wenn doch, wollte er mich vermutlich nicht stören.«
Dalgliesh wandte sich an Dennis Tremlett. »Wie groß ist der Schaden? Wenn das Druckfahnen waren, gibt es vermutlich noch einen Satz hier und weitere im Verlag.«

T
remlett fand seine Stimme wieder. »Die Fahnen waren sehr wichtig. Er hätte sie niemals verbrannt. Die letzte Überarbeitung hat er nämlich stets am Fahnensatz vorgenommen und nicht mehr am Manuskript. Das war für den Verlag natürlich aufwändiger und für ihn teurer, aber er hat mit den Überarbeitungen immer auf die Fahnen gewartet. Und er hat viel korrigiert. Er wollte so arbeiten. Manchmal hat er sogar noch zwischen zwei Auflagen Änderungen verlangt. Er war nie so ganz davon überzeugt, dass ein Roman vollkommen war. Und er wollte auch nicht das Lektorat im Verlag hinzuziehen. Wir haben das zusammen gemacht. Er hat seine Änderungen mit Bleistift in die Fahnen geschrieben, und ich habe sie dann mit Tinte in meine Kopie übertragen. Diese Kopie fehlt übrigens auch.«
»Und beide wurden hier aufbewahrt?«
»In der oberen Schreibtischschublade. Die war nicht abgeschlossen. Er ist gar nicht auf die Idee gekommen, dass das notwendig sein könnte.«
Dalgliesh wollte gern mit Tremlett allein sprechen, aber das würde nicht leicht werden. Er wandte sich an Miranda. »Ich glaube, ich würde Ihr Angebot von vorhin doch gerne annehmen. Vielleicht eine Tasse Kaffee, wenn es nicht zu viel Mühe macht.«

F
alls die Bitte unerwünscht war, so verbarg sie ihren Unmut gut und ging wortlos aus dem Wohnzimmer. Erleichtert beobachtete Dalgliesh, dass sie die Tür hinter sich schloss. Er fragte sich, ob Kaffee die richtige Entscheidung war. Wenn Oliver wählerisch gewesen war, so musste sie wahrscheinlich die Bohnen frisch mahlen, und das würde ein wenig dauern, doch wenn sie keine Lust hatte, sich große Mühe zu geben, blieben ihm wohl nur wenige ungestörte Minuten.
Ohne jede Einleitung sagte er zu Tremlett: »Wie war Mr. Oliver als Arbeitgeber?«

T
remlett hob den Kopf. Und jetzt schien er förmlich darauf erpicht zu sein, zu Wort zu kommen. »Er war nicht einfach, aber warum sollte er auch? Ich meine, er hat mich nicht ins Vertrauen gezogen, und er konnte manchmal ungehalten sein, aber das hat mich nicht gestört. Ich verdanke ihm alles. Zwölf Jahre habe ich für ihn gearbeitet, und das waren die besten Jahre meines Lebens. Bevor er mich einstellte, war ich freiberuflicher Lektor und arbeitete hauptsächlich für seinen Verlag. Ich war viel krank, deshalb war es schwer, eine feste Stelle zu finden. Er hat gesehen, dass ich sehr gründlich war, und mich eingestellt, nachdem ich eines seiner Bücher lektoriert hatte. Er hat für mich Abendkurse bezahlt, damit ich lernte, mit dem Computer umzugehen. Es war einfach eine Ehre, für ihn zu arbeiten, Tag für Tag dabeisein zu dürfen. T. S. Eliot hat mal von dem Ýunerträglichen Ringen mit Wort und SinnÜ gesprochen, und das traf auf Oliver absolut zu. Die Leute haben ihn als den zeitgenössischen Henry James bezeichnet, das war er eigentlich nicht. Da waren die langen, verschachtelten Sätze, aber bei James hatte ich immer das Gefühl, dass sie die Wahrheit verhüllten. Bei Nathan Oliver haben sie die Wahrheit erhellt. Ich werde nie vergessen, was ich von ihm gelernt habe. Ein Leben ohne ihn kann ich mir gar nicht vorstellen.« Er war den Tränen nahe.
Dalgliesh fragte sanft: »Inwiefern haben Sie ihm geholfen? Ich meine, hat er mit Ihnen auch schon mal darüber gesprochen, wie er mit einem Buch vorankam, über seine Absichten?«
»Er brauchte meine Hilfe nicht. Er war ein Genie. Nur manchmal hat er gefragt - beispielsweise bei einer handlungsreichen Szene -, glauben Sie das? Erscheint Ihnen das plausibel? Und ich habe ihm ehrlich geantwortet. Handlungsentwürfe haben ihm allgemein wenig Freude gemacht.«

O
liver hatte das Glück gehabt, einen Helfer zu finden, der von wahrer Liebe zur Literatur beseelt war und ein ebensolches Feingespür wie er selbst, jemanden, der vielleicht sogar gerne sein eigenes kleineres Talent unter den Scheffel stellte, um dem größeren zu dienen. Und sein Kummer war echt. Es war schwer, ihn sich als Olivers Mörder vorzustellen. Doch Dalgliesh waren schon wahre Killer mit ähnlich großem schauspielerischen Talent unter die Augen gekommen. Trauer, selbst wenn sie echt war, konnte ein ungemein ambivalentes Gefühl sein und war nur selten unkompliziert. Es war möglich, um das unwiederbringlich verlorene Talent eines Toten zu trauern und zugleich den Tod des Menschen zu feiern. Das Verbrennen der Druckfahnen war da sicher etwas anderes. Darin manifestierte sich ein Hass auf das Werk selbst, und eine Kleingeistigkeit, die er bei Tremlett nicht hatte feststellen können. Worum dieser Mensch wohl wirklich trauerte, um einen Mentor, der entsetzlich zu Tode gekommen war, oder um einen Haufen verkohltes Papier mit den akribisch notierten Anmerkungen eines großen Schriftstellers? Die Trauer konnte er nicht teilen, aber er teilte die Empörung.
Und jetzt kam Miranda zurück. Kate stand auf und half ihr mit dem Tablett. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.09.2006