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Nein, Darling, das stimmt nicht. Denk doch nur an die Figuren in seinen Büchern - diese Vielfalt, diese Fülle. Da sind sich alle Rezensenten einig. Er könnte nicht so schreiben, wenn er seine Figuren nicht verstehen und ihre Gefühle nicht teilen könnte.«
Er sagte: »Er teilt die Gefühle seiner Figuren. Er ist seine Figuren.«
Sie schob sich über ihn, blickte hinunter in sein Gesicht, und ihre schwingenden Brüste berührten fast seine Wangen. Und dann erstarrte sie. Er sah ihr Gesicht, weiß wie Granit und verzerrt vor Angst. Mit einer unbeholfenen Bewegung rutschte er unter ihr weg und hielt sich die offene Jeans zu. Dann blickte auch er auf. Einen Moment lang war er desorientiert und sah nur eine Gestalt, schwarz, reglos und finster, die am äußeren Rand der Klippe stand und von Licht umrahmt wurde. Dann brach die Wirklichkeit über ihn herein. Die Gestalt wurde real und erkennbar. Es war Nathan Oliver.

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ark Yelland weilte zum dritten Mal auf Combe Island, und wie zuvor hatte er gebeten, im Murrelet Cottage untergebracht zu werden, dem nördlichsten entlang der Südostküste. Es lag zwar weiter von den Klippen entfernt als Atlantic Cottage, aber es war auf einem kleinen Hügelkamm erbaut und bot eine der schönsten Aussichten von Combe. Bei seinem ersten Besuch vor zwei Jahren hatte er gleich gewusst, als er die von Steinmauern geschützte Ruhe des Cottage betrat, dass er endlich einen Ort gefunden hatte, wo die täglichen Ängste seines gefährlichen Lebens für zwei Wochen in den Hintergrund treten würden und er seine Arbeit, seine Beziehungen, sein Leben so friedlich betrachten konnte, wie ihm das am Arbeitsplatz und zu Hause unmöglich war. Hier war er frei von den großen und banalen Problemen, die Tag für Tag seiner Entscheidung bedurften. Hier brauchte er keinen Personenschutz, keine aufmerksame Polizei. Hier konnte er nachts bei unverschlossener Tür schlafen, die Fenster weit zum Himmel und Meer hin geöffnet. Hier gab es keine kreischenden Stimmen, keine hassverzerrten Gesichter, keine Post, die zu öffnen vielleicht gefährlich war, keine Telefonanrufe, die sein Leben und die Sicherheit seiner Familie bedrohten.
Er war am Tag zuvor angekommen, nur das Allernotwendigste und einige sorgfältig ausgesuchte CDs und Bücher im Gepäck, die er nur auf Combe hören und lesen konnte, wofür ihm sonst die Zeit fehlte. Er war froh über die relativ abgeschiedene Lage des Cottage, und während seiner ersten beiden Aufenthalte hatte er die ganzen zwei Wochen über mit niemandem geredet. Sein Essen war ihm entsprechend seiner schriftlichen Bestellung geliefert worden, die er jeweils zu den leeren Behältern und Thermosflaschen gelegt hatte. Er hatte nicht den Wunsch verspürt, mit den anderen Gästen gemeinsam an den offiziellen Mahlzeiten im Haus teilzunehmen. Die Einsamkeit war eine Offenbarung für ihn gewesen. Er hatte nicht gewusst, wie befriedigend und wohltuend es sein konnte, vollkommen allein zu sein. Vor seinem ersten Aufenthalt hatte er sich gefragt, ob er es überhaupt würde aushalten können, doch obwohl die Einsamkeit zur Selbstreflexion zwang, empfand er sie nicht als quälend, sondern als befreiend. Als er wieder in die traumatische Realität seines Berufslebens zurückkehrte, war er auf eine Art und Weise verändert, die er selbst nicht erklären konnte.

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ie bei seinem letzten Besuch auf der Insel vertrat ihn dort ein kompetenter Mann. Die Vorschriften des Innenministeriums verlangten, dass stets ein Lizenzinhaber oder ein stellvertretender Lizenzinhaber im Labor war oder Bereitschaft hatte, und sein Stellvertreter war erfahren und zuverlässig. Es würde Krisensituationen geben - die gab es immer -, aber die zwei Wochen würde er schon zurechtkommen. Nur in einem extremen Notfall würde sein Stellvertreter im Murrelet Cottage anrufen.
Kaum hatte er mit dem Auspacken der Bücher begonnen, war er auf Monicas Brief gestoßen, der zwischen den obersten beiden Bänden steckte. Jetzt nahm er ihn vom Schreibtisch und las ihn erneut Wort für Wort, langsam und mit großer Aufmerksamkeit, als könnte es eine versteckte Bedeutung enthalten, die sich nur bei genauester Zweitlektüre offenbarte.

Lieber Mark,
gerne hätte ich den Mut gehabt, direkt mit dir zu sprechen, oder zumindest dir diesen Brief vor deiner Abreise zu geben, aber ich habe ihn nicht aufgebracht. Vielleicht ist es ja auch ganz gut. So wirst du ihn in Ruhe lesen können, ohne tun zu müssen, als mache er dir wirklich etwas aus, und ich werde nicht das Gefühl haben, eine Entscheidung rechtfertigen zu müssen, die ich vor Jahren hätte fällen sollen. Wenn du von Combe Island zurückkehrst, werde ich nicht mehr hier sein. Zu schreiben, dass ich »nach Hause zu meiner Mutter« fahre, klingt peinlich und lächerlich, doch genau dazu habe ich mich entschlossen, und das ist vernünftig. Sie hat reichlich Platz, und die Kinder haben sich in dem alten Kinderzimmer und im Garten immer wohl gefühlt. Da ich entschieden habe, unsere Ehe zu beenden, sollte ich es auch tun, und zwar bevor sie auf weiterführende Schulen wechseln. Es gibt dort eine gute Schule, die bereit ist, sie kurzfristig aufzunehmen. Und ich weiß, dass sie dort in Sicherheit sind. Ich kann dir nicht mal ansatzweise klarmachen, wie viel mir das bedeutet. Ich glaube nicht, dass du je wirklich begriffen hast, in welcher Angst ich jeden Tag gelebt habe, nicht nur um mich selbst, sondern um Sophie und Henry. Ich weiß, dass du deine Arbeit nie aufgeben wirst, und ich bitte dich auch nicht darum. Ich habe immer gewusst, dass die Kinder und ich nicht zu den Prioritäten in deinem Leben zählen. Nun, ich habe meine eigenen Prioritäten. Ich bin nicht mehr bereit, Sophie, Henry oder mich selbst zum Opfer deiner Obsession zu machen. Ich habe es nicht eilig mit einer offiziellen Trennung oder Scheidung - was von beiden, ist mir egal -, aber ich denke, wir sollten das nach deiner Rückkehr in Angriff nehmen. Sobald ich mich hier einigermaßen eingelebt habe, werde ich dir den Namen meines Anwaltes zukommen lassen. Bitte erspare dir eine Antwort. Erhol dich gut.
Monica.

Beim ersten Lesen des Briefes war er selbst verblüfft gewesen, wie ruhig er ihre Entscheidung hingenommen hatte, und, mehr noch, dass er keine Ahnung von ihren Plänen gehabt hatte. Und sie hatte es geplant. Sie und ihre Mutter waren Verbündete gewesen. Eine neue Schule gefunden und die Kinder auf den Umzug vorbereitet - das alles hatte sie geregelt, und er hatte nichts mitbekommen. Er fragte sich, ob seine Schwiegermutter ebenfalls beim Abfassen des Briefes beteiligt gewesen war. Er hatte so eine sachliche Klarheit, die eher typisch für sie war als für Monica. Einen Moment lang hatte er sie vor sich gesehen, wie die beiden, Seite an Seite, den ersten Entwurf ausarbeiteten. Interessant fand er auch, dass ihm der Verlust von Sophie und Henry mehr zu schaffen machte als das Ende seiner Ehe. Er empfand keinen Groll gegen seine Frau, aber er wünschte, sie hätte den Zeitpunkt besser gewählt. Zumindest hätte sie ihn für die Dauer seines Urlaubs mit dieser zusätzlichen Sorge verschonen können. Doch allmählich nahm ein kalter Zorn von ihm Besitz, als würde ein Gift in sein Gehirn geleitet, das seine innere Ruhe zersetzte und zerstörte. Und er wusste auch, gegen wen sich dieser wachsende Zorn richtete.

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s war reiner Zufall, dass sich Nathan Oliver auf der Insel aufhielt, ebenso wie Rupert Maycroft rein zufällig die anderen Gäste bei der Begrüßung am Kai namentlich erwähnt hatte. Der Würfel war gefallen: Er würde seine Pläne ändern, die Hauswirtschafterin Mrs. Burbridge anrufen und sich erkundigen, wer sich für das Dinner am Abend im Haus angemeldet hatte. Und falls Nathan Oliver darunter war, würde er seine Einsamkeit aufgeben und ebenfalls teilnehmen. Es gab Dinge, die er Nathan Oliver sagen musste. Nur wenn er sie loswurde, könnte er den aufwallenden Zorn und die Bitterkeit besänftigen. Dann würde er alleine ins Murrelet Cottage zurückkehren und die Insel ihre geheimnisvollen heilenden Kräfte entfalten lassen.

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Er stand mit dem Rücken zu ihr und schaute aus dem südlichen Fenster. Als er sich umwandte, sah Miranda, dass sein Gesicht so starr und leblos war wie eine Maske. Nur der Pulsschlag über dem rechten Auge verriet die Erbitterung, die er mühsam beherrschte. Sie zwang sich, ihm in die Augen zu blicken. Was hatte sie erhofft? Einen Hauch von Verständnis, Mitleid?
Sie sagte: »Wir wollten nicht, dass du es so erfährst.«

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eine Stimme war leise, die Worte gehässig. »Natürlich nicht. Bestimmt wolltest du mir alles nach dem Dinner erklären. Mir muss keiner sagen, wie lange diese Affäre dauert. Ich habe bereits in San Francisco gewusst, dass du endlich jemanden zum Vögeln gefunden hattest. Zugestanden, ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass du dafür auf Tremlett zurückgreifen musstest - einen Krüppel, mittellos, mein Angestellter. Dass du dich in deinem Alter von ihm irgendwo in den Büschen bespringen lässt wie ein geiles Schulmädchen, das ist obszön. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 02.08.2006