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Manchmal schien sie kaum zu bemerken, dass es ihn überhaupt gab. Er sagte sich, dass sie eben die Tochter ihres Vaters war. Oliver war stets ein anspruchsvoller Arbeitgeber gewesen, vor allem, wenn er auf Lesereisen im Ausland unterwegs war. Dennis verstand eigentlich nicht, warum er sich die noch antat, denn finanziell notwendig konnten sie unmöglich sein. Die offensichtliche Begründung Olivers lautete, es sei für ihn als Schriftsteller wichtig, seinem Publikum zu begegnen, mit den Menschen zu sprechen, die ihn kauften und lasen, zum Dank die kleine Gefälligkeit zu erweisen, ihnen seine Bücher zu signieren. Dennis vermutete andere Gründe. Die Reisen erfüllten das Bedürfnis nach öffentlicher Bestätigung des Respekts, ja der blinden Bewunderung, die so viele Tausende für ihn empfanden.

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ie Strapazen dieser Reisen schlugen sich in einer Pedanterie und Gereiztheit nieder, die nur seine Tochter und Tremlett zu spüren bekamen. Miranda machte sich durch kritische Bemerkungen und Forderungen unbeliebt, die ihr Vater von sich aus niemals zur Sprache brachte. Sie inspizierte jedes Hotelzimmer, das ihm zugedacht war, ließ ihm ein Bad einlaufen, wenn ihn der komplizierte Mechanismus für heiß, kalt, Dusche und Wanneneinlauf überforderte, und sorgte dafür, dass ihn in seiner freien Zeit niemand störte und ihm das gewünschte Essen zu jeder noch so ungewöhnlichen Uhrzeit prompt serviert wurde. Er hatte eigenartige Schwächen. Miranda und die mitreisende Frau von der Presseabteilung mussten sicherstellen, dass Leser, die für eine Widmung in dem frisch erworbenen Buch anstanden, ihm den jeweiligen Namen deutlich in Großbuchstaben aufgeschrieben hatten. Er ließ gut gelaunt quälend lange Signierstunden über sich ergehen, aber sobald er seinen Stift weggelegt hatte, wurde er ungehalten, wenn etwa Mitarbeiter der Buchhandlung oder deren Freunde auch noch eine Widmung haben wollten. Miranda sammelte dann unauffällig die entsprechenden Buchexemplare ein, nahm sie mit ins Hotel und versprach, dass sie am nächsten Morgen fertig sein würden. Tremlett wusste, dass sie als lästiges Anhängsel der Lesereise betrachtet wurde, als jemand, dessen schroffe Effizienz im Gegensatz zu der Bereitschaft des Vaters stand, keine Mühe zu scheuen. Er selbst bekam in den Hotels stets ein billigeres Zimmer. Es war luxuriöser als alles, was er bis dato gewohnt war, und er beklagte sich nie. Er vermutete, dass Miranda ähnlich behandelt worden wäre, hätte sie nicht den Namen Oliver getragen und ihr Vater sie nicht in Reichweite zur Verfügung haben wollen.

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nd jetzt, während er still neben ihr lag, erinnerte er sich daran, wie ihre Beziehung begonnen hatte, in dem Hotel in Los Angeles. Es war ein langer und anstrengender Tag gewesen, und um halb zwölf in der Nacht, nachdem ihr Vater endlich versorgt war, hatte Dennis sie vor der Tür ihres Zimmers gefunden, wie sie mit hängenden Schultern halb dagegen lehnte. Sie schien nicht mehr in der Lage, die Magnetkarte ins Schloss zu stecken, und er hatte sie ihr spontan aus der Hand genommen und die Tür geöffnet. Ihr stand die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben und sie war den Tränen nahe.

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mpulsiv hatte er einen Arm um sie gelegt und ihr ins Zimmer geholfen. Sie hatte sich an ihn geklammert, und nach ein paar Minuten - er wusste nicht mehr genau wie - waren sich ihre Lippen begegnet, und sie hatten sich leidenschaftlich geküsst unter gestammelten Liebesbekenntnissen. Ein Schwall von Gefühlen hatte ihn überwältigt, doch ein plötzlich erwachtes Begehren war das stärkste von allen gewesen, und dass sie im Bett landeten, schien so natürlich und unausweichlich, als wären sie schon immer ein Liebespaar. Doch es war Miranda gewesen, die die Führung übernommen hatte, Miranda war es gewesen, die sich sanft von ihm löste und zum Telefon griff. Sie hatte Champagner mit zwei Gläsern bestellt und die Bitte geäußert, ihn »umgehend« zu bringen. Miranda war es gewesen, die ihn gebeten hatte, im Badezimmer zu warten, bis der Boy mit dem Champagner weg war, und Miranda hatte das Bitte-nicht-stören-Schild außen an die Tür gehängt.Das alles war inzwischen gleichgültig. Sie war verliebt. Er hatte sie zu einem Leben erweckt, das sie mit der ganzen eigensinnigen Entschlossenheit eines Menschen ergriff, der lange hatte verzichten müssen. Und sie würde es nie wieder loslassen, was bedeutete, dass sie ihn nie wieder loslassen würde. Aber er sagte sich, dass er gar nicht mehr fort wollte. Er liebte sie. Wenn das keine Liebe war, was dann? Auch in ihm waren Gefühle geweckt worden, die ihn in ihrer Intensität fast erschreckten: der männliche Triumph der Eroberung, Dankbarkeit dafür, so viel Lust geben und empfinden zu können, Zärtlichkeit, Selbstbewusstsein, und das Abstreifen der Angst, dass Einsamkeit das Einzige war, das er je erleben würde.
Jetzt jedoch überkam ihn erneut Unsicherheit, während er in wohltuender postkoitaler Erschöpfung dalag. Ängste, Hoffnungen, Pläne kreisten in seinem Kopf wie Lottokugeln. Er wusste, was Miranda sich wünschte: Heirat, ein eigenes Zuhause und Kinder. Er sagte sich, dass er das auch wollte. Sie strahlte vor Optimismus, ihm kam das alles vor wie ein ferner unwirklicher Traum. Wenn sie sich unterhielten, und er ihren Plänen lauschte, versuchte er, diese nicht zu zerreden, aber mit ihr teilen konnte er sie auch nicht. Während sie sich die Zukunft in den schönsten Farben ausmalte, wurde ihm schweren Herzens klar, dass sie ihren Vater nie wirklich verstanden hatte.

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s schien seltsam, dass sie, Olivers Tochter, die mit ihm zusammengelebt und die ganze Welt bereist hatte, den Kern dieses Menschen schlechter erkannte als er nach nur zwölf Jahren. Er wusste, dass er unterbezahlt war, ausgebeutet wurde und immer nur dann in den Genuss von Olivers vollem Vertrauen kam, wenn sie an einem Roman arbeiteten. Andererseits war ihm so viel gegeben worden: die Möglichkeit, dem Lärm, der Gewalt und den Demütigungen seiner Anstellung als Lehrer an einer Londoner Gesamtschule und später der Unsicherheit und schlechten Bezahlung eines freiberuflichen Lektors zu entkommen; die Befriedigung, beim kreativen Prozess eine Rolle zu spielen, und sei sie auch noch so klein und unauffällig; Zeuge zu sein, wie aus einem Wust unzusammenhängender Ideen schließlich ein Roman geformt wurde. Er war peinlich genau, wenn er lektorierte, und jedes säuberliche Symbol, jede Hinzufügung oder Tilgung bereitete ihm ein fast körperliches Vergnügen. Oliver wollte nicht, dass seine Manuskripte im Verlag lektoriert wurden, und Dennis wusste, dass er weitaus mehr wert war, als ein normaler Lektor. Oliver würde ihn nie gehen lassen. Niemals.
Wäre es möglich, so fragte er sich, so weiterzumachen wie bisher? Die gestohlenen Stunden, die sie mit List und Tücke häufiger einschieben könnten. Das heimliche Leben, das alles andere erträglich machen würde. Der Reiz des Verbotenen, der die sexuelle Erregung noch steigerte. Aber das war unmöglich. Allein der Gedanke war ein Verrat an Mirandas Liebe und Vertrauen. Plötzlich kamen ihm längst vergessene Worte in den Sinn - Zeilen aus einem Gedicht - Donne, oder? Wer ist wie wir so sicher, da uns keiner / Verraten kann als von uns beiden einer? Noch während ihre nackte Haut ihn wärmte, schlich Verrat sich wie eine Schlange in seine Gedanken und rollte sich dort still zusammen, träge und doch unverrückbar.

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iranda hob den Kopf. Sie wusste, was ihm durch den Kopf ging, zumindest zum Teil. Das war das Erschreckende an der Liebe: Es kam ihm so vor, als hätte er ihr den Schlüssel zu seinen Gedanken gegeben und als könnte sie nach Belieben darin herumspazieren.
Sie sagte: »Darling, alles wird gut. Ich weiß, dass du dir Sorgen machst. Hör auf damit. Es ist unnötig.« Sie sagte es mit einer Bestimmtheit, die an Eigensinn grenzte. »Alles wird gut.«
»Aber er braucht uns doch. Er ist von uns abhängig. Er wird uns nicht gehen lassen. Er wird nicht zulassen, dass unser Glück sein gesamtes Leben durcheinander bringt, seine Art zu leben, zu arbeiten, seine Gewohnheiten. Ich weiß, manche Menschen hätten da keine Schwierigkeiten, aber er schon. Er kann sich nicht ändern. Es würde ihn als Autor vernichten.«

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ie stützte sich auf den Ellbogen und sah ihn an. »Darling, das ist lächerlich. Und selbst wenn er das Schreiben aufgeben müsste, wäre das denn so schlimm? Manche Kritiker sagen ja jetzt schon, dass er seine beste Zeit hinter sich hat. Außerdem muss er ja gar nicht ohne uns zurechtkommen. Wir können in deiner Wohnung leben, wenigstens am Anfang, und jeden Tag bei ihm sein. Ich werde für ihn eine zuverlässige Haushälterin suchen, die in dem Haus in Chelsea übernachtet, damit er nachts nicht allein ist. Vielleicht gefällt ihm das sogar besser. Ich weiß, dass er dich respektiert, und ich glaube, er mag dich. Es ist bestimmt sein Wunsch, dass ich glücklich bin. Ich bin sein einziges Kind. Ich liebe ihn. Er liebt mich.«
Dennis Tremlett brachte es nicht übers Herz, ihr die Wahrheit zu sagen. Schließlich wandte er vorsichtig ein: »Ich glaube, er liebt niemanden außer sich selbst. Er ist wie ein Kanal. Gefühle fließen durch ihn hindurch. Er kann sie beschreiben, aber nicht empfinden, nicht für andere Menschen.«
(wird fortgesetzt)

Artikel vom 01.08.2006