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Eine halbe Stunde Vorsprung

Jens Voigt siegt in Montelimar - Floyd Landis »verleiht« das Gelbe Trikot

Gap (dpa). Quälende Doping-Verdächtigungen, Außenseiter im Gelben Trikot, spektakuläre Stürze und fragwürdige Renn-Strategien: Die 93. Tour de France wird ohne Stars immer unberechenbarer.
Der Mann im Gelben Trikot: Oscar Pereiro (Spanien) führt die Tour an.
Vor dem Einstieg in die Alpen verteidigte der Spanier Oscar Pereiro gestern in Gap die Spitze in der Gesamtwertung, die am Vortag Floyd Landis (USA) kampflos abgab. Den Tagessieg im Ziel der 14. Etappe feierte nach 180,5 Kilometer bei erneut brütender Hitze Piereck Fedrigo, der als dritter Franzose bei dieser Tour triumphierte. Pereiro geht am Montag mit 1:29 Minuten Vorsprung auf Landis in den zweiten Tour-Ruhetag.
38 Kilometer vor dem Ziel war Matthias Kessler in einen schweren Sturz einer fünfköpfigen Spitzengruppe verwickelt, bei dem sich der Belgier Rik Verbrugghe schwer verletzte. Der 27-jährige Kessler, der gegen eine Leitplanke prallte und kopfüber eine Böschung hinab stürzte, konnte das Rennen fortsetzen. Der vor ihm gestürzte Spanier David Canada brach sich das Schlüsselbein. Verbrugghe erlitt Kopfverletzungen und einen Oberschenkelhalsbruch. Die Etappe nach Gap ist berüchtigt: 2003 war der Spanier Joseba Beloki ebenfalls spektakulär gestürzt. »Das war der schwärzestes Tag meiner Karriere - ich war mit Abstand der stärkste der Fünfergruppe und hatte meinen zweiten Etappensieg vor Augen«, ärgerte sich Kessler.
In der »Tour der Verrückten«, wie »L'Ć’quipe« schrieb, hatte sich Jens Voigt am Samstag in Montélimar in der längsten Etappe über 230 Kilometer einen Lebenstraum erfüllt und zum zweiten Mal nach 2001 einen Tageserfolg gefeiert. Er profitierte in einer fünfköpfigen Ausreißergruppe von der merkwürdigen Tatenlosigkeit des Landis-Teams Phonak, das im geschlossenen Peloton mit einem Rückstand von 29:57 Minuten ins Ziel trudelte. Bei rigoroser Auslegung der Tour-Regeln hätten 155 Fahrer wegen Zeitüberschreitung aus dem Rennen genommen werden müssen.
»Endlich hat es mit einer Ausreißergruppe geklappt«, sagte er zu dem scheidenden Tourchef Jean-Marie Leblanc in perfektem Französisch. Vier Mal war Voigt vergeblich dem Feld enteilt. Bei seinem längsten »Ausritt« (210 km) war die Gruppe ins Ziel gekommen - und Voigt hatte den Schlussspurt für sich entschieden.
Den Journalisten erzählte er später, dass dies »der schönste Tag« in seinem Rennfahrer-Leben sei, schöner noch als die Tour 2001, als Voigt einen Tag im Gelben Trikot fuhr.
Die Teamleitung des Hörgeräte-Herstellers, die noch schneller als T-Mobile vor der Tour zwei in die spanische Doping-Affäre verstrickte Fahrer suspendierte, begründete die Aktion mit der Kraft-Ökonomie vor den zwei schweren Alpen-Etappen morgen und Mittwoch. »Wir wissen nicht, ob es jetzt eine Überraschung geben kann. Aber wir glauben, dass Pereiro, der im vorigen Jahr noch bei uns fuhr, in den Alpen keine Gefahr ist«, sagte Phonak-Kapitän und Armstrong-Lehrling Landis. »Das Gelbe Trikot ist in Paris wichtig, nicht in Gap«. Pereiro ist kein gänzlich Namenloser: In den vergangenen beiden Jahren war er in Paris Zehnter. Das T-Mobile-Team, das den Schatten des wegen Doping-Verdachts suspendierten Jan Ullrich nicht los wird, machte gestern erneut durch Kessler von sich reden. Der Nürnberger, der die Etappe in Valkenburg gewonnen hatte, setzte sich zusammen mit fünf weiteren Fahrern 40 Kilometer nach dem Start ab.
Die größte Schwierigkeit des Tages, den 1303 Meter hohen Col de Perty 84 Kilometer vor dem Ziel, nahmen sie mit mehr als fünf Minuten Vorsprung vor dem Hauptfeld. Aber der Sturz riss sie auseinander. Nur zwei von ihnen, Fedrigo und der Italiener Salvatore Commesso, retteten drei Sekunden ins Ziel.

Artikel vom 17.07.2006