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Es weckte keinerlei Emotionen, höchstens Verwunderung darüber, dass sich überhaupt jemand die Mühe gemacht hatte, es zu errichten.
Selbst der weite Blick vom Balkon war unspektakulär. Benton sah auf eine trostlose Industrielandschaft in Schwarz- und Grautönen, beherrscht von rechteckigen Plattenbauten, gesichtslosen Firmengebäuden und engen Straßen mit unverwüstlichen Reihenhäusern aus dem neunzehnten Jahrhundert, die jetzt zum sorgsam geschützten Lebensraum junger dynamischer Karrieristen geworden waren. Der Westway schwang seinen Bogen über einen voll gestopften Wohnwagenpark, in dem Menschen, Vagabunden gleich, unter den Betonpfeilern hausten und sich nur selten hervorwagten. Auf dem Schrottplatz dahinter türmte sich das zusammengefaltete Blech von Autowracks auf, ein zerklüftetes Labyrinth, Symbol für die Zerbrechlichkeit des menschlichen Lebens und der Hoffnung. Brach der Abend herein, wandelte sich das Panorama, wurde durch das Licht unwirklich und mystisch. Ampelanlagen blinkten, Autos bewegten sich wie Roboter über gleichsam flüssige Straßen, die hohen Kräne mit dem einsamen Lämpchen an der Spitze waren geknickt wie Gottesanbeterinnen, groteske Zyklopen der Nacht. Flugzeuge senkten sich geräuschlos aus einem blauschwarzen mit grellbunten Wolken gefleckten Himmel Richtung Heathrow, und bei zunehmender Dunkelheit flammten die Lichter in den Apartmenthochhäusern auf, Stockwerk für Stockwerk, wie auf Kommando.

D
och weder bei Nacht noch bei Tage war das eine eindeutige Londoner Landschaft. Benton hatte das Gefühl, es könnte jede andere Großstadt sein, auf die er da hinausschaute, unter ihm nicht eins der vertrauten Wahrzeichen - kein Stück vom Fluss, keine farbig gestrichenen, angestrahlten Brücken, keine bekannten Türme oder Kuppeln. Und genau das, diese sorgfältig ausgewählte Anonymität, eben diese Landschaft, hatte er gewollt. Er hatte keine Wurzeln geschlagen, weil es für ihn so etwas wie Heimaterde nicht gab.

E
r war kaum sechs Monate, nachdem er bei der Polizei angefangen hatte, in diese Wohnung gezogen, und größer hätte der Unterschied zum Haus seiner Eltern in der baumbestandenen Straße in South Kensington kaum sein können: die weiße Treppe hinauf zu der von Säulen eingerahmten Haustür, der glänzende Anstrich, der makellose Putz. Er war aus der kleinen Einliegerwohnung oben im Haus ausgezogen, weil es ihm peinlich war, nach dem achtzehnten Geburtstag noch bei den Eltern zu wohnen, in erster Linie aber, weil er sich nicht vorstellen konnte, einen Kollegen dorthin einzuladen. Für jeden, der das Haus betrat, war auf Anhieb zu erkennen, was es repräsentierte: Geld, Status, die kulturelle Selbstsicherheit der gut situierten, liberalen oberen Mittelschicht. Doch ihm war bewusst, wie unecht diese vermeintliche Unabhängigkeit war. Das Apartment und die Einrichtung hatten ihm die Eltern finanziert - bei seinem Gehalt hätte er sich den Umzug sonst nicht leisten können. Und er hatte sich nett eingerichtet. Sarkastisch sagte er sich, dass nur ein Gast, der sich mit modernem Design auskannte, einschätzen konnte, wie viel die trügerisch schlichten Möbel gekostet hatten.

A
ber er hatte nie Besuch von Kollegen. Als Neuling war er zunächst zurückhaltend gewesen, weil er wusste, dass er eine Probezeit durchlief, die strenger und langwieriger war als die vorläufige Einschätzung seitens seiner Vorgesetzten. Er hatte auf Toleranz, Respekt und Akzeptanz gehofft, wenn schon nicht auf Freundschaft, und bis zu einem gewissen Grad hatte er sich genau das auch verdient. Er wusste allerdings, dass er noch immer mit argwöhnischer Zurückhaltung betrachtet wurde. Er hatte das Gefühl, von den verschiedenen Institutionen - unter anderem der Strafgerichtsbarkeit -, die seine rassischen Empfindlichkeiten schützen wollten, förmlich umzingelt zu werden, als wäre er ebenso leicht zu schockieren wie eine viktorianische Jungfrau von einem Exhibitionisten. Er wünschte, die Rassenkämpfer würden ihn in Ruhe lassen. Oder wollten sie Minderheiten als übersensibel, unsicher und paranoid stigmatisieren? Andererseits sah er ein, dass das Problem teilweise hausgemacht war, eine Reserviertheit in ihm ging tiefer und war unverzeihlicher als Schüchternheit und verhinderte Nähe. Sie wussten nicht, wer er war; er wusste nicht, wer er war. Das lag nicht nur daran, dass seine Mutter Inderin war. Die Londoner Welt, die er kannte und in der er arbeitete, wimmelte von Männern und Frauen, die gemischtethnischer, -religiöser und -nationaler Herkunft waren. Und alle schienen sie klarzukommen.

S
eine indische Mutter war Kinderärztin, sein englischer Vater Leiter einer Londoner Gesamtschule. Sie hatten sich kennen und lieben gelernt und geheiratet, als sie siebzehn war, sein Vater zwölf Jahre älter. Und bis auf dem Tag liebten sie sich heiß und innig. Von den Hochzeitsfotos wusste er, dass seine Mutter hinreißend schön gewesen war. Sie war es immer noch. Sie hatte nicht nur Geld, sondern eben diese Schönheit mit in die Ehe gebracht. Er hatte sich von Kindheit an als Eindringling in die private Welt seiner sich selbst genügenden Eltern gefühlt. Sie waren beide viel beschäftigte Menschen, und er hatte bereits früh gelernt, dass ihnen ihre gemeinsame Zeit kostbar war. Er wusste, er wurde geliebt. Ihnen lag sein Wohlergehen am Herzen. Doch wenn er leise und unerwartet einen Raum betrat, in dem sie beide allein waren, sah er, wie die Wolke der Enttäuschung auf ihren Gesichtern rasch in ein Lächeln der Begrüßung umschlug - allerdings nicht schnell genug. Ihre unterschiedlichen Glaubensvorstellungen stellten für sie offenbar kein Problem dar. Sein Vater war Atheist, seine Mutter katholisch, und Francis war in dieser Konfession erzogen worden. Als er sich in der Pubertät jedoch allmählich von seinem religiösen Glauben verabschiedete wie von einem Teil seiner Kindheit, bekamen es seine Eltern entweder nicht mit oder meinten, nicht das Recht zu haben, ihn deswegen zur Rede zu stellen.

S
ie hatten ihn jedes Jahr nach Delhi mitgenommen, und auch dort fühlte er sich stets fremd. Es war, als wären seine Beine schmerzhaft über einem kreisenden Globus gespreizt und könnten auf keinem der beiden Kontinente sicheren Halt finden. Sein Vater liebte die jährliche Reise nach Indien über alles, fühlte sich dort zu Hause, wurde überschwänglich empfangen, lachte, neckte und wurde geneckt, trug indische Kleidung, verbeugte sich bei der Begrüßung mit einer größeren Selbstverständlichkeit, als er zu Hause Hände schüttelte, und fuhr nach tränenreichen Verabschiedungen wieder fort. Als Kind und Jugendlicher wurde viel Wirbel um Benton gemacht. Alle waren begeistert von ihm, lobten sein Aussehen, seine Intelligenz. Er stand verlegen da, erwiderte höflich die Komplimente und wusste, dass er nicht dazugehörte.

E
r hatte nach seiner Versetzung in Adam Dalglieshs Sonderdezernat gehofft, dass er sich in seinem Beruf, vielleicht sogar in seiner zerrissenen Welt heimischer fühlen könnte. Vielleicht war das bis zu einem gewissen Grade auch so. Er wusste, dass er sich glücklich schätzen konnte, wurde doch die Zeit im Sonderdezernat bekanntlich als Plus angerechnet, wenn eine Beförderung anstand. Sein letzter Fall - der zugleich auch sein Erster war -, ein Toter bei einem Brand in einem Museum in Hampstead, war ein Test gewesen, den er seiner Einschätzung nach erfolgreich bestanden hatte. Beim nächsten Einsatz konnte es jedoch problematischer werden. Inspector Piers Tarrant war zwar als anspruchsvoller und mitunter schwieriger Vorgesetzter bekannt, aber Benton hatte das Gefühl gehabt, mit ihm klarzukommen, weil er in ihm genau den Ehrgeiz, Zynismus und die Rücksichtslosigkeit wieder fand, die er verstand und von sich selbst kannte. Jetzt jedoch, wo Tarrant zur Antiterroreinheit versetzt worden war, würde er unter Detective Inspector Kate Miskin arbeiten müssen. Sie stellte eine weniger offensichtliche Herausforderung dar und das nicht, weil sie eine Frau war. Sie war stets korrekt und nicht so offensiv kritisch wie Tarrant, aber er spürte, dass er ihr als Kollege nicht behagte. Das hatte nichts mit seiner Hautfarbe, seinem Geschlecht oder seiner gesellschaftlichen Herkunft zu tun, obwohl er ahnte, dass sie, was Letzteres betraf, Komplexe hatte. Nein, sie mochte ihn einfach nicht. Das war so, und daran war nichts zu ändern. Irgendwie, und möglicherweise schon bald, würde er lernen müssen, damit umzugehen.

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m Augenblick jedoch dachte er über seinen freien Tag nach. Er war früh mit dem Fahrrad zum Markt am Notting Hill Gate gefahren und hatte fürs Wochenende Bioobst, -gemüse und Fleisch gekauft. Einen Teil davon wollte er im Laufe des Nachmittags seiner Mutter bringen. Seit sechs Wochen war er nicht mehr zu Hause gewesen, und es war an der Zeit, sich mal wieder blicken zu lassen, wenn auch nur, um das nagende Schuldgefühl zu beruhigen, dass er alles andere als ein Mustersohn war.
Und abends würde er für Beverley kochen. Die einundzwanzigjährige Schauspielerin hatte gleich nach der Schauspielschule eine kleine Rolle in einer Endlos-Soap im Fernsehen ergattert, die in einem Dorf in Suffolk spielte. (wird fortgesetzt)

Artikel vom 22.07.2006