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Von Karl Pickhardt

Paderborner
Perspektiven

»Zeit, dass sich was dreht«


Zugegeben, es ist zunächst nur ein Spiel. Aber Hand aufs Herz: Wer konnte sich in den vergangenen Wochen dieser Faszination »Fußball-Weltmeisterschaft« bei uns im Lande und mit Dortmund und Gelsenkirchen sogar vor der Paderborner Haustür entziehen? Wohl nur wenige.
Eltern und Kinder, Freunde, Nachbarn, Kollegen, Alt und Jung, Frauen und Männer, Bankdirektor und Kindergärtnerin: Die Fußball-WM hat uns alle vereint. Die vielen Fahnen in unseren Straßen, die Fähnchen an den Autos und überall schwarz-rot-gold: Die Begeisterung lässt sich vielleicht nur noch mit den dramatischen Ereignissen rund um die deutsche Wiedervereinigung 1989/90 vergleichen.
Am Franz-Stock-Platz in Paderborn, in ungezählten Gaststätten und Biergärten, ja sogar in Feldscheunen, in der Paderborner Universität oder in Kinosälen: Tausend lagen sich in den Armen, sangen gemeinsam die Nationalhymne, zeigten buchstäblich Flagge. Nationalhymne in der Uni? Vor 20 Jahren schier undenkbar.
Wer glaubt, hier flamme überzogener, ja gefährlicher Nationalstolz auf, hat den Geist vom Franz-Stock-Platz und anderer WM-Meilen nicht verstanden. In Ländern wie Spanien, Italien, England, Polen oder Frankreich würden solche Patriotismus-Fragen gar nicht erst gestellt.
Das wunderschöne »Wir-Gefühl« nicht nur auf dem Franz-Stock-Platz macht die Sehnsucht insbesondere junger Menschen nach Solidarität und Gemeinschaft deutlich. Diese schwarz-rot-goldene Welle ist - wenn auch bei Vielen nur unbewusst - ein Schulterschluss gegen soziale Kälte, die gerade junge Menschen in diesen Tagen auch in und um Paderborn erfahren. Wer keine Lehrstelle findet, wer stapelweise Absagen nach Bewerbungen erntet, wer ständig das Gefühl »Dich brauchen wir nicht« erfährt, der durfte in diesen einzigartigen WM-Tagen träumen. »You never walk alone«: Sehnsucht nach Gemeinschaft und Solidarität.
Man ist geneigt, die Vorstandsetagen von Allianz, Telekom und anderer Kündigungs-Weltmeister nach Paderborn zum Franz-Stock-Platz einzuladen, damit sie einmal ein anderes Deutschland-Bild gewinnen. Sie sollten ein einziges Mal diese Stimmung aufsaugen und mitnehmen - und dann den Mut aufbringen, trotz Rekordgewinne ihrer Unternehmen in Milliardenhöhe Menschen auf die Straße zu setzen. Das mag auch für Politiker gelten, die im Schatten der Fußball-Weltmeisterschaft entgegen aller Wahlkampfaussagen den Bürgern dieses Landes weitere Steuer- und Abgabenlasten aufzwängen, weil Politiker den Begriff »Sparen« offenbar aus ihrem Wortschatz gestrichen haben. Der Paderborner Erzbischof Hans-Josef Becker, der das Italien-Spiel im Dortmunder Stadion live auf der Tribüne miterlebte, brachte nach der deutschen Niederlage die Stimmung auf den Punkt: »Die vergangenen drei Wochen haben gezeigt, dass sich Berge versetzen lassen, wenn man an etwas glaubt. Wir haben gesehen, wie weit die Hoffnung Menschen tragen kann. Ich wünsche, dass wir die in diesen Tagen erfahrene Freude weiter hoch halten. Es war schön zu sehen, dass Gastfreundschaft, Solidarität, Fairness und Freundlichkeit eine Gesellschaft verschönern«.
Der WM-Sieg 1954 in Bern hat das Selbstwertgefühl (»Wir sind wieder wer«) eines am Boden liegenden Volkes nach verlorenem Weltkrieg gestärkt. Die Weltmeisterschaft 2006 im eigenen Land mit einer begeisternden deutschen Fußballnationalmannschaft und einer nicht für möglich gehaltenen Sympathie-Welle rückt alte Werte wie Freundschaft, Zusammenstehen, Helfen oder Solidarität und Wir-Gefühle in den Fokus. Denn diese Wert bleiben in unserer an Gewinnmargen orientierten Gesellschaft mit dem Produktions- und Kostenfaktor Mensch auf der Strecke. Was sagt uns der Franz-Stock-Platz: »You never walk alone - Du gehst nie allein«.. Wie singt Herbert Grönemeyer im offiziellen WM-Lied: »Zeit, dass sich was dreht«. Er hat Recht!

Artikel vom 08.07.2006