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Das Wort zum Sonntag

Von Pfarrer Heinz-August Kixmüller, EC-Gemeinschaft Wehrendorf


In einem alten Protokoll einer Verhandlung vor einem New Yorker Polizeigericht ist dieser ungewöhnliche Sitzungsverlauf nachzulesen:
Zwei Polizisten führen einen alten Mann in abgerissener Kleidung vor. An einem eisigen Wintertag hat er versucht, bei einem Bäcker ein Brot zu stehlen. Der Diebstahl ist aufgefallen, der Ladeneigentümer hat die Polizei gerufen und die beiden Polizisten haben ihn direkt zum Polizeigericht gebracht.
Nun steht er hier und wartet auf seine Verurteilung und Bestrafung. Aber ausgerechnet an diesem Tag vertritt der New Yorker Bürgermeister La Guardia den verhinderten Polizeirichter. In der Verhandlung gibt der Beschuldigte den Diebstahl sofort zu, erzählt dem Bürgermeister aber auch, dass er das Brot nur deswegen genommen habe, weil seine Familie großen Hunger leide. Er habe keine Arbeit, kein Geld und niemand habe ihm helfen können oder wollen. So habe er aus lauter Verzweiflung das Brot an sich genommen.
Der Bürgermeister hat keine Wahl. Er verurteilt den Mann zur Zahlung von zehn Dollar Strafe, denn das Gesetz sieht genau diese Strafe vor und es erlaubt keine Ausnahme.
Aber dann zieht er seine Brieftasche aus der Jackentasche und gibt dem Mann einen Zehndollarschein, damit dieser seine Strafe bezahlen kann und freikommt.
Die Zuhörer im Gerichtssaal sind erstaunt und bekunden ihr Wohlwollen. Doch plötzlich merken sie, dass sich La Guardia an sie wendet: »Und jetzt verurteile ich jeden im Saal Anwesenden zu einer Geldbuße von fünfzig Cent, und zwar dafür, dass er als Bürger dieser Stadt auch dafür verantwortlich ist, dass ein Mann ein Brot stehlen muss, damit seine Familie nicht verhungert.« Es wird ganz still im Gerichtssaal. Als der Gerichtsdiener das kassierte »Bußgeld« zählt, staunt er über insgesamt fünfzig Dollar. Der arme Mann aber verlässt den Gerichtssaal als freier Mann mit fünfzig Dollar in der Tasche. Auch die Zuhörer verlassen das Gerichtsgebäude, nachdenklich. Vielen ist offensichtlich bewusst geworden, dass sie für den anderen Verantwortung tragen. Sie haben die Lektion, die ihnen ihr Bürgermeister erteilt hat, verstanden.
Und wie geht es Ihnen, wie geht es mir? Finden wir uns möglicherweise in dieser Begebenheit wieder? Sehen wir den anderen? Nicht die vielen, denen wir doch nicht helfen können, nein der eine, dessen Last wir sehen, dessen Last uns anrührt, der ist gemeint, dem sollen, dem können wir helfen.
Richtig so! Aber wie sieht die Realität aus? Es gibt doch tausend Gründe, die uns daran hindern wollen, die Last des anderen mitzutragen: Wir sind so beschäftigt, wir wollen dem anderen doch nicht zu nahe treten, vielleicht haben wir Angst in Konflikte hineingezogen zu werden oder uns fehlt die Kraft oder die notwendige Sachkenntnis. Uns geht es hier möglicherweise nicht anders als den Menschen vor 2000 Jahren. Damals schon hat der Apostel Paulus den ersten Christen in Galatien geschrieben: »Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen« (Gal. 6,2). Es war und ist offenbar nicht einfach die Last des anderen zu tragen. und doch ist gerade das ein ganz klarer Auftrag, den Gott uns gibt. »Helft dem anderen genauso, wie ich euch geholfen habe. Jesus Christus ist für eure Schuld gestorben. Er hat die vom Gesetz geforderte Strafe für euren Ungehorsam durch sein Sterben am Kreuz bezahlt. Ihr könnt als freie Leute durch euer Leben gehen. Die schwerste Last habe ich für euch getragen. Das ist das Gesetz Christi. Und dieses Gesetz erfüllt ihr, wenn ihr Lastenträger für den anderen seid.« Das ist Gottes Botschaft und Auftrag für alle Menschen.

Artikel vom 08.07.2006