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»Wer Kinder fördern will, muss Jugendlichen einen Start ins Leben ermöglichen.«

Leitartikel
Familienpolitik endet früh

Harte Lehre
aus zu vielen
Leer-Stellen


Von Bernhard Hertlein
Vielleicht geschieht nicht genug. Doch niemand wird der Kanzlerin abstreiten, dass ihre Regierung sich bemüht, Familienpolitik ernstzunehmen. Die Versuche, jungen Eltern die Doppelbelastung von Kind und Beruf zu erleichtern, sind nicht nur christlich und sozial, sondern auch ökonomisch motiviert. Alle demografischen Studien lassen die Deutschen in naher Zukunft ziemlich alt aussehen - und mit ihnen ihren Wohlstand und das Sozialsystem.
Staatliche Familienförderung ist also dringend nötig - aber niemals ausreichend. Die Eltern müssen darüber hinaus das Gefühl haben, dass ihre Kinder willkommen sind. Zum Beispiel bei den Nachbarn, selbst wenn die Kleinen schreien, in Blumenbeete tapsen oder später Klingelstreiche spielen. Und auch bei den Arbeitgebern, selbst wenn Vater und Mutter dadurch eine Zeit lang ausfallen und örtlich wie zeitlich nicht mehr ganz so flexibel sind wie zur Single-Zeit.
Der echte Lakmus-Test für Familienfreundlichkeit und -förderung findet erst statt, wenn die Kinder nicht mehr klein und niedlich sind. Sobald die Jungs und Mädels den Kindergarten und bald danach die Grundschule verlassen, werden sie in den Augen der Öffentlichkeit plötzlich zu »Problemfällen«. Als hätte es nicht auch schon früher pubertierende »Zicken« und »Halbstarke« gegeben!
Und Jugendliche, die sich besaufen, schlagen und viel zu früh mit der ersten Liebe einlassen - oder dem, was sie dafür halten. Und Schüler, die schlicht dumm sind oder faul. So mancher, der am Stammtisch über »PISA« und die Folgen herzieht, hätte selbst Probleme, das Ohmsche Gesetz und mitunter sogar einen einfachen Dreisatz zu berechnen, einen Brief ins Englische zu übersetzen sowie den Namen jedes Ministers oder Ministerpräsidenten zu benennen.
Es geht nicht darum, Jugend aus der Lernpflicht zu entlassen. Selbst einfachen Bauhandwerkern wird heute aus gutem Grund viel mehr Wissen abverlangt als vor 20 oder 30 Jahren. Aber Ehrlichkeit tut auch Älteren gut.
Je älter Kinder werden, desto mehr werden Eltern für sie zur Kasse gebeten. Von der verbilligten Schwimmbad-Eintrittskarte bis zum günstigeren Urlaub -Êfür alles gibt es Altersgrenzen. Und wenn das Studium beginnt, kommen zu allem anderen noch die Studiengebühren.
Aber immerhin, es gibt Studienplätze. Dagegen ist das Lehrstellen-Loch in Ostwestfalen größer als jemals zuvor. Die Kammern und viele Unternehmer tun viel, um die Leer-Stellen zu füllen. Aber es gibt auch die anderen - jene, die sich unter Hinweis auf Defizite bei den Bewerbern aus der Verantwortung stehlen. Wenn es stimmt, dass jeder fünfte Schulabgänger nicht »lehrstellentauglich« ist, dann muss man - das heißt »die« Politik und »die« Wirtschaft - sich etwas Neues jenseits der dualen Ausbildung einfallen lassen.
Woher soll jemand, der ohne Lehrstelle von Praktikum zu Praktikum hüpft, das Vertrauen nehmen, das notwendig ist, um eine Familie zu gründen? Wer Kinder fördern will, muss Jugendlichen einen Start ins Leben ermöglichen.

Artikel vom 05.07.2006