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Überirdisches Konzert

Philharmoniker bezwingen Bruckners »Achte«

Von Sebastian von Gehlen
Bielefeld (WB). Im Zeitalter des Pauschaltourismus und der (immer noch) erschwinglichen Preise für Interkontinentalflüge kann scheinbar kein Weg zu weit, kein Ziel zu hoch und kein Ort lebensfeindlich genug sein, um nicht von Horden hedonistischer Selbsterfahrer heimgesucht zu werden.

Ê Für den erfolgsverwöhnten Extrembergsteiger von heute muss es schon ein »Achttausender« sein - mit weniger gibt sich das inflationsgeschwächte Ego erst gar nicht ab. Allein seine unantastbare Erhabenheit kann den Himalaya noch davor bewahren, zum Disneyland des Hochalpinismus zu verkommen.
Wenden wir uns lieber den schöngeistigen Dingen zu. Über Bruckners achte Sinfonie geistern so allerhand verrückte Geschichten durch die Welt. Kein Wunder, handelt es sich doch um ein hochgradig dem Diesseitigen entrücktes Werk, welches sich Peter Kuhn mit den Bielefelder Philharmoniker zum krönenden Abschluss der Konzertsaison ausgesucht hat.
Nach fulminanter »Erstbesteigung« 1892 in Wien blieb im Lauf der Zeit viel »brauner Dreck« an diesem Klang-Massiv hängen, bildlich gesprochen. In den eisigen Höhen jenseits der (geistigen) Wachstumsgrenze wird zwar alles konserviert, doch gottlob liegt diese Eiszeit schon lange hinter uns.
So konnte sich das Publikum am Freitagabend in der gut besuchten Oetkerhalle ganz auf seine Kernaufgabe konzentrieren, der Erschaffung eines genialen Klanguniversums im Augenblick seines Entstehens und wieder Vergehens beizuwohnen. Typisch für Bruckner ist dieser Schöpfungsakt, der zwar vom Komponisten vorgezeichnet wurde, von allen beteiligten Musikern aber wie bei einer Expedition in unbekanntes Neuland im Hier und Jetzt zu Ende gedacht werden muss. Bei einem Werk, das sich schon durch seine Sperrigkeit interpretatorischer Routine widersetzt, gibt es nur eine Konstante, einen Kompass: die Hand, welche den Taktstock führt. Und diese Führung erfolgte so kraftvoll und zielstrebig, dass sich alle Anspannung vor den kommenden Unwägbarkeiten vollkommen in Staunen und Hingabe auflösen konnten.
Peter Kuhn schritt in machtvoller und virtuoser Geste voran: Taktwiederholungen wurden mit »Schwerthieben« durchpflügt, lapidare Streicher-Skalen verliehen reliefartige Struktur, zarter Schmelz statt Romantik-Schmalz umhüllte gefühlvolle Passagen. Wichtiges Mittel war die Wahl passender Tempi, souverän gehandhabt von Peter Kuhn, der nie der naiven Versuchung erlag, noch einen »drauflegen« zu müssen. Ausnehmend gut geriet die Zwiesprache zwischen solistischen Instrumenten und Gruppen. Aus dröhnendem Fortissimo-Gewühl heraus waren die Subito-piano-Stellen stets tadellos intoniert. Besonderen Wohlklang durften die Hörner im zweiten Teil verbreiten.
So gut gemeint die Pause zwischen zweitem und drittem Satz sicherlich war, der Einheit des Werkes wurde dadurch kein Gefallen erwiesen. Andererseits konnte einem das mächtig eingehämmerte Thema des zweiten Satzes auch nicht so leicht aus dem Kopf gehen. Die Begeisterung äußerte sich denn auch in Zwischenapplaus zur Pause und der wohlverdienten Anerkennung zum Schluss eines Konzertes, das seinem »Achttausender« in Würde und Ehrfurcht begegnete.

Artikel vom 27.06.2006