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Rügens schöne Sinfonien
Kreideküste und Kap Arkona sind zu allen Jahreszeiten eine Reise wert
Ein typischer Frühlingstag in Deutschland. Was verkündet der Wetterfrosch vom Radio? Schnee im Harz, Regen in Hamburg und Schwerin, Hagel in Rostock. Und auf Rügen? Da scheint die Sonne - fast überall.
Nur auf die Kreideküste bewegt sich eine Nebelwand zu und hüllt die weißen Felsen ein. »Wie Sie sehen, sehen Sie nix«, übt sich ein enttäuschter Tourist in Galgenhumor. Aber auf den Nationalpark Jasmund trifft diese sarkastische Bemerkung streng genommen nicht zu. Denn die Schönheit der Natur offenbart sich bei jedem Wetter zu allen Jahreszeiten.
Freilich bedarf es schon eines geschulten Blickes, um die Feinheiten wahrzunehmen: wie den Frosch, der am Tümpel mit seinesgleichen um die Wette quakt; die Zugvögel im Tiefflug und in klassischer Formation; die kleine Orchidee im Schatten. In einer Handvoll Erde gibt es mehr Leben als Menschen auf der Welt.
Die Sozialisten hatten wenig Gespür für die Natur. Sie kassierten 50 Pfennig Eintritt für den Königstuhl und nutzten den umliegenden Wald für die Forstwirtschaft. Dann kam die Wende und mit ihr der Massenansturm von Besuchern aus dem Westen, die den von Caspar David Friedrich so stimungsvoll gemalten Kreidefelsen erleben wollten. Noch vor der Wiedervereinigung wurde in freier Wahl eine neue DDR-Regierung bestimmt - und der Ministerrat beschloss auf seiner letzten Sitzung die Einrichtung eines Nationalparks.
Das Land Mecklenburg-Vorpommern wählte den World Wildlife Fund als strategischen Partner, und der WWF gündete zusammen mit der Stadt Sassnitz eine gemeinnützige Gesellschaft, um dem Nationalpark Gestalt zu geben. Seitdem müssen Autos draußen parken - und statt eines Hotels entstand ein Besucherzentrum, das alles andere als ein »Ökotempel am Königstuhl« ist. Statt mit erhobenem Zeigefinger wird mit Emotionen versucht, den Besuchern ein Gespür für die Natur zu geben. 70 Millionen Jahre wollen per Zeitreise erkundet werden. Die interaktive Ausstellung ist ebenso unterhaltsam wie lehrreich, ehemalige Waldarbeiter sind nun Park-Ranger und holzen nur noch jene Bäume ab, die Fremdkörper in diesem Wald sind.
Leider blocken die Mitarbeiter des Nationalparks alle Fragen zur Vogelgrippe ab und verweisen auf offizielle Verlautbarungen des Ministeriums. Weil aber besonders die Politiker seit vergangenem Februar stark an Glaubwürdigkeit verloren haben, wären es gerade die fachlich geschulten Naturschützer, die überzeugend den irrationalen Ängsten der Bevölkerung entgegen treten könnten, auch wenn Sperrzonen schon seit Ende April der Vergangenheit angehören und überall bedenkenlos gewandert (im Sommer auch gebadet) werden kann.
Aber immerhin geben die Ranger gute, wichtige Wander- und Sicherheitstipps! Denn das Klettern in den weichen Felsen wäre lebensgefährlich - und nicht zu allen Jahreszeiten ist es ratsam, den schmalen Weg zwischen Ufer und dem Fuß der Klippen zu begehen. Insbesondere wenn der Frost den ohnehin weichen Kreidefels gelockert hat, können kleine, aber auch große Brocken urplötzlich hinabstürzen. Der Abbruch der Wissower Klinken im Jahr 2002 beraubte den Park um eine seiner schönsten Formationen, von der Johannes Brahms einst sagte, dort sei eine schöne Sinfonie hängen geblieben. Wochenlang war die Ostsee weiß gefärbt, weil sich das Gestein im Wasser nur langsam auflöste.
Ebenso wie die Kreidefelsen sind die Leuchttürme am Kap Arkona ein Rügen-Klassiker und somit einen Besuch wert. Ernst Heinemann, Bürgermeister des autofreien 285-Seelen-Dorfes Putgarten und früher Soldat auf der Marinestation am Kap, erweist sich mit seiner Frau Christa als unermüdlicher Motor für den Tourismus. Im Rahmen einer Bunkerführung kann man die Epoche des Kalten Krieges noch einmal aus der Perspektive des Ostblocks erleben.
Vom neuen Leuchtturm genießen konditionsstarke Treppensteiger den tollen Ausblick. Der Schinkel-Leuchtturm ist ein architektonisches Kleinod. Im Marinepeilturm bieten Rüganer Künstler ihre Werke zum Verkauf an. Die Wallanlagen erinnern an die Epoche der Slawen. Im Gutshof werden leckere Fisch-und Wurstspezialitäten serviert. Will man nur die wichtigsten Wanderwege am Kap Arkona und im Nationalpark ablaufen, benötigt man schon mehrere Tage.
Thomas Albertsen

Artikel vom 24.06.2006